Zu lebendig zum Sterben - Skandinavien-Krimi. Kirsten Holst
Der Hausmeister fegte die Straße vor dem Haus, als ich endlich bei meiner Wohnung ankam. Ich war zum Umfallen müde und ich brauchte ein Bad.
»Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte er. »Sie sehen ja richtig verschlaucht aus.«
»Geschlaucht, Rade«, sagte ich. »Geschlaucht. Ich bin nur müde.«
»Ihr Freund hätte Sie ruhig nach Hause fahren können«, sagte Rade missbilligend. Er hatte gesehen, wie Henrik mich am Nachmittag abgeholt hatte. »Sie müssen ihn erziehen. Aber es ist gut, dass Sie jetzt einen Freund haben. Ein nettes Mädchen braucht einen Freund, nicht?«
»Das ist nicht mein Freund, Rade«, sagte ich. »Das ist mein neuer Chef. Ich habe eine Arbeit gefunden.«
Rades Gesicht überzog ein Netz von Lachfältchen. »Gut! Mit dem Chef befreundet, das ist noch besser.«
»Sie wissen doch, dass ich keinen anderen Freund haben will außer Ihnen.«
Rade lachte. »Ich bin zu alt.«
»Wenn Sie das sagen.«
Eigentlich heißt Rade Radoslav und ist Jugoslawe. Er und seine Frau sind vor 31 Jahren hierher gekommen. Er ist gerade siebzig geworden. Er hat bei Eternit gearbeitet und hatte das Glück, eine der kleinen Wohnungen hier im Haus zu bekommen. Die Frau des Eigentümers war selbst Jugoslawin und mehr als gerne bereit, einem Landsmann zu helfen, also wurde Rade Hausmeister und das ist er immer noch. Er und eine alte Dame, die in einer der Parterrewohnungen in unserem Aufgang wohnt, sind die Einzigen, die hier zur Miete wohnen. Alle anderen Wohnungen sind in Eigentumswohnungen umfunktioniert worden, nachdem die alten Mieter gestorben oder weggezogen sind.
Jeden Abend zwischen sechs und sieben fegt Rade den Bürgersteig. Ich habe ihn einmal gefragt, ob er wirklich Geld bekommt, um jeden Abend zu fegen. Er hat nur mit den Schultern gezuckt.
»Ich bin hier Hausmeister, nicht? Hier soll es ordentlich aussehen.«
Es ist ordentlich. Keine Graffiti. Keine kaputten Scheiben. Keine Hundescheiße auf dem Bürgersteig, nichts, das im Hof oder im Keller herumliegt. Jeden Samstag wird die Treppe geputzt. Sowohl die Vordertreppe wie die Hintertreppe. Freitagabend stellen die Bewohner die Fußmatten hoch und Samstagmorgen ist die Treppe geputzt. Als wären im Laufe der Nacht die Heinzelmännchen da gewesen. Das hat Rades Frau immer gemacht, bevor sie krank wurde, hat er erzählt, dann hat er auch das übernommen. Da war er ja schon in Pension. Sie ist in dem Jahr gestorben, bevor es in Jugoslawien knallte.
»Damals habe ich Gott verflucht!«, hat mir Rade erzählt. »Wir hatten all die Jahre gespart. Das Geld dort unten auf der Bank deponiert. Ein schönes kleines Haus gekauft, das wir vermietet hatten. Wir wollten runterziehen, wenn wir erst pensioniert waren. Das war unser Traum. Unsere letzten Jahre zu Hause zu verbringen und dort zu sterben. Dafür haben wir gespart. Jetzt ist das Haus weg, das Geld ist weg, das Dorf, die Familie ...« Er zuckte mit den Schultern. »Es gibt nichts, zu dem man nach Hause kommen kann. Jetzt danke ich Gott, dass sie das nicht hat erleben müssen. Am Tag vor ihrem Tod hat sie gesagt, dass wir runterziehen sollten, sobald sie wieder gesund genug ist. Wir hatten ja unser Auskommen. Ich habe Ja gesagt und sie geküsst und in der Nacht ist sie gestorben. Ich habe bei ihr gesessen und ich weiß, dass sie glücklich gestorben ist. Damals habe ich es nicht verstanden, aber jetzt weiß ich, dass es das Beste war, was ihr in ihrem Leben passiert ist. Dass sie zur rechten Zeit gestorben ist. Manchmal weiß Gott, was er tut, nicht?«
»Auch in Jugoslawien?«, fragte ich.
»Das ist nicht Gottes Werk. Das ist das Werk der Menschen.«
Das mochte ich nicht kommentieren. Ich weiß nicht, ob Rade mir von seiner Frau erzählt hat, um mich zu trösten, als er begriffen hatte, wie krank meine Schwester Allie war. Vielleicht. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube, dass er einfach Lust hatte, von sich zu erzählen. Das konnte er mir geben. Seine Geschichte. Dass ich ihn sah, wie er war. Dass ich ihn kannte und an der richtigen Stelle in meiner eigenen Geschichte einordnen konnte. Ich mag ihn sehr. Das sage ich ihm regelmäßig.
»Sie erinnern mich an den Griechen Sorbas«, habe ich ihm bei einem der ersten Male gesagt, die wir miteinander gesprochen haben.
Er lachte. »An Anthony Quinn? Ihm ähnele ich nicht.«
Aus dem einen oder anderen Grund verblüffte es mich, dass er den Film gesehen hatte, dass er irgendetwas mit Sorbas verband. Aber warum nicht? Er hatte jahrelang hier gelebt. Er war mit seiner Frau oft ins Kino gegangen, obwohl sie nicht besonders viel mitbekam, da sie kein Englisch verstand und die dänischen Untertitel nicht lesen konnte.
»Nein, ich meinte nicht Anthony Quinn. Sondern den richtigen Sorbas. Den aus dem Buch. Ich habe das Buch gelesen, bevor ich den Film gesehen habe, und Sorbas gleicht ihnen.«
»Eigentlich mag ich die Griechen nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil sie unsere Nachbarn sind. Die Leute mögen ihre Nachbarn nie, nicht? Wir mögen die Griechen, die Albaner und die Italiener nicht. Die Dänen können die Deutschen und die Schweden nicht leiden.«
Ich verdrehte die Augen. »Einige meiner besten Freunde sind Schweden!«
Rade lachte. Er spricht Dänisch mit einem furchtbaren Akzent, aber er versteht fast alles. Ihm entgeht kaum etwas, weder Ironie noch Sarkasmus noch Untertreibungen oder versteckte Zitate, das ist schon imponierend. Man kann Witze mit ihm machen. Die in einer fremden Sprache zu verstehen gehört mit zum Schwersten; ich spreche aus Erfahrung.
In der ersten Zeit war Rade der Einzige im Haus, mit dem ich gesprochen habe. Vielleicht ist das nur natürlich, er war der Hausmeister, zu ihm ging man, wenn der Wasserhahn tropfte oder die Sicherungen heraussprangen, aber ich fand es seltsam, dass die anderen Hausbewohner nur nickten, wenn man sich auf der Straße oder der Treppe traf. Zehn Jahre war ich die amerikanische Aufgeschlossenheit gewohnt gewesen, wo man neue Nachbarn willkommen heißt. Aber vielleicht hing das damit zusammen, dass ich zu seltsamen Zeiten kam und ging und nicht richtig am Leben des Hauses teilnahm. Die meiste Zeit verbrachte ich bei Allie in Großmutters Haus, das auch – mehr oder weniger – unser Kindheitsheim war.
Rade sorgte dafür, dass ich ein Türschild bekam und dass auf Briefkasten und Sprechanlage mein Name angebracht wurde.
»Nicht Beatrice, Mädel, nur B«, sagte er.
Ich lachte. »Wozu soll das gut sein? Alle und jeder können sich doch ausrechnen, dass hier eine Frau wohnt, wenn an Stelle des Vornamens nur ein Buchstabe steht.«
»Hier nicht«, sagte Rade und zeigte auf die anderen Schilder. Er hatte Recht. Nicht ein einziger Vorname stand da, nur Anfangsbuchstaben.
»Geschickt, was?«, sagte er zufrieden.
Rade hatte mir Lampen aufgehängt, Nägel in die Wände geschlagen und die Ikea-Regale zusammengebaut, die mich an den Rand der Tränen gebracht hatten. Er hatte mir auch geholfen, das riesige Wasserbett zu leeren und zu entsorgen, auf dem die vorige Besitzerin Selbstmord begangen hatte. Ich hatte es nicht behalten wollen, obwohl ich es umsonst bekommen hatte.
Rade trägt unser aller Lasten. Jedenfalls die, die mit dem Besitz einer Eigentumswohnung verbunden sind.
J. Rindom, die in der ersten Etage links wohnt, kam um die Ecke getrippelt und steuerte auf Rade zu. Mir nickte sie im Vorbeigehen gnädig zu.
»Ach, Rade«, gurrte sie. »Mein Wasserhahn tropft.«
»Ja, dann sollten wir wohl besser einmal danach sehen«, sagte Rade.
»Könnten Sie das gleich machen?«, gurrte sie und klimperte mit den Augenwimpern, die schwer und schwarz von Mascara waren. Sie muss um die sechzig sein, aber sie gurrt und blinzelt und flirtet wie eine Siebzehnjährige. Ich glaube nicht, dass Rade ihrem Charme gegenüber vollkommen gleichgültig ist, deshalb nickte ich den beiden zu und überließ sie sich selbst und ihrem Flirt.
Meine Wohnung liegt in der vierten Etage. In den ersten Wochen arbeiteten meine Lungen wie ein Blasebalg, wenn ich endlich oben angekommen war, aber jetzt habe ich mich daran gewöhnt.