Weites Herz. Jean Vanier
helfen uns auf diese Weise zu einem tieferen Einswerden mit Jesus. Wir lernen es, mit ihnen Freundschaft zu schließen, und durch sie und mit ihnen auch mit Jesus.
Unsere Gemeinschaften beruhen – genau wie auch die Gemeinschaften »Glaube und Licht«1 – auf dem Glauben an den Wert, den jeder Mensch hat; ganz unabhängig von seiner Kultur oder Religion, seinen Fähigkeiten oder Behinderungen. Wir alle sind berufen, in der Liebe und Weisheit und der Fähigkeit zum Annehmen des Anderen zu wachsen. Manche unserer Gemeinschaften wurzeln im katholischen Glauben; andere wurden ökumenisch. So erleben wir die Freuden des Einsseins und die Schmerzen, die es bereitet, noch gespalten zu sein. Indem wir versuchen, die Botschaft Jesu zu leben, wachsen wir zusammen.
Der vorliegende Text wurde ursprünglich gesprochen. Es handelt sich dabei um Vorträge, die ich bei Einkehrtagen in der Dominikanischen Republik hielt. Die Teilnehmer waren Menschen aus dem Alltagsleben der Arche in Lateinamerika und der Karibik. Diese »Assistenten«, wie sie in der Arche genannt werden, brauchen immer wieder Anregungen, die sie auffrischen und neu motivieren. Da wir mit Menschen zusammenleben, die viele Ängste in sich tragen, kann unser Leben zeitweise voller Stress werden. Daher ist es für uns dringend notwendig, dass wir unsere Liebe zu Jesus vertiefen, der in den Menschen verborgen ist, die oft unerwünscht sind. Am Abschlusstag dieser Einkehrzeit gingen viele der Assistenten öffentlich ihre Verpflichtung oder ihren »Bund« mit Jesus und allen Mitgliedern ihrer Gemeinschaft ein, besonders mit den schwächsten und ärmsten. Das war ihre Antwort auf eine Berufung, die sie von Gott her verspürten.
Später wurden diese Vorträge in Buchform gebracht, wobei Struktur und Stil der Einkehrzeit beibehalten wurden: für jeden der sechs Tage ein Kapitel. Jeder Vortrag behandelt einen Schritt auf einem Weg des Glaubens und der Liebe. Daher sollte auch jeder so gelesen werden: still, in innerem Frieden, damit man beim Lesen tiefer ins Geheimnis der in Jesus offenbar gewordenen Liebe Gottes hineingezogen wird.
Zwar wurde diese Woche der Besinnung und des Gebets für in der Arche engagierte Menschen gehalten, aber sie kann auch für alle anderen hilfreich sein, die nach dem Evangelium zu leben versuchen. Ihre Themen können alle inspirieren, die der Überzeugung sind, dass die Kirche nur auf dem Weg erneuert werden kann, dass wir den Menschen dienen und mit ihnen Freundschaft schließen, und dass alle, die Jesus nachfolgen, nur auf diesem Weg zu einer Gemeinschaft vereint werden können. Das gilt in besonderem Maß für unser Verhältnis zu den Menschen, die uns als »fremd«, »fremdartig« und »anders« vorkommen, nämlich die in unserer Gesellschaft Ungewollten und Einsamen. Zudem müssen wir es lernen, auch mit unserer eigenen Armut, also dem »Fremdartigen« und Einsamen in uns selbst, Freundschaft zu schließen.
Ich möchte hier mit den Worten schließen, die Kardinal Etchegaray in Rom bei seiner Ansprache zum Beginn des neuen Jahrtausends vor Jugendlichen äußerte:
Die Kirche bittet euch, aufmerksam auf die Schwachen und Verletzlichen zu achten; auf diejenigen, über die Jesus sich freut, weil sie sehen, was den Klugen und Fähigen verborgen bleibt (vgl. Matthäus 11,25). Vergesst nie dieses Kriterium. Es ist das kostbarste, das sicherste, das konkreteste Kriterium, das euch erkennen helfen wird, was Christus von euch erwartet … Die Richtung ist klar: Arm leben, wie Christus es tat, mit dem Armen leben, um mit Christus zu leben. Die Erneuerung der Kirche gelingt immer dann, wenn wir es wagen, im Bund mit den Armen zu leben.
Jean Vanier
L’Arche, Trosly
Anmerkung
1 Eine 1971 von Jean Vanier gegründete internationale Bewegung für geistig Behinderte und ihre Familien und Freunde. Siehe auch: Kathryn Spink, Jean Vanier und die Arche – Die Geschichte einer außergewöhnlichen Berufung. Neufeld/Tyrolia, Schwarzenfeld/Innsbruck 2008.
Einführung
Jesus weinte
Als Jesus sich Jerusalem näherte, weinte er. Die geheimnisvollen Tränen Jesu. Er konnte voraussehen, was geschehen würde. Er wusste, Jerusalem würde zerstört werden, die »Heilige Stadt« würde zur »Stadt des Leidens«, zur »Stadt des Kriegs und Konflikts« werden.
Jesus weinte:
»Wenn du doch die Friedensbotschaft verstanden hättest …«
(vgl. Lukas 19,42)
Aber diese Friedensbotschaft verstehen wir nicht. Oft kennen wir den Kern der Botschaft des Evangeliums gar nicht richtig.
Jesus weint über unsere heutige Welt. Er weint über unsere Länder, in denen so große Ungleichheit herrscht, Spaltung und gegenseitiges sich Ausschließen. Wenn wir uns die Botschaft des Evangeliums genauer ansehen und dazu auch das Geschenk der »Arche«, erschließt sich uns das Geheimnis des Weinens Jesu. In unseren Arche-Gemeinschaften heißen wir Menschen willkommen, die abgelehnt und ausgestoßen wurden. Sie haben viele Tränen geweint. Die Arche wurde auf ihren Tränen errichtet.
Luisito ist ein Mensch mit schweren Behinderungen. Vor seiner Aufnahme in die Arche in Santo Domingo lebte er auf der Straße und nächtigte in einer kleinen Hütte in der Nähe der katholischen Kirche. Als seine Mutter starb, blieb er allein zurück. Hier und da gaben ihm die Nachbarn etwas zum Essen, aber niemand kümmerte sich wirklich um ihn: Er war schmutzig und stank; sein Körper war verkrümmt; er konnte nicht gehen und nicht sprechen. Die Leute ertrugen kaum seinen Anblick; er verstörte sie. Aber heute ist er eines der Gründungsmitglieder der Arche in Santo Domingo und es ist eine Freude, ihm in der dortigen Gemeinschaft zu begegnen.
Claudia kam vom Asyl in San Felipe (in Honduras) zur Arche in Suyapa. Weil sie blind und autistisch ist, hatte man sie als Kind ausgesetzt. Während ihres ersten Jahres in der Arche-Gemeinschaft »Casa Nazaret« war sie ziemlich verstört und voller Ängste; sie schrie viel. Jetzt ist sie friedlicher. Sie deckt den Tisch, arbeitet in der Werkstätte … Als ich diese Gemeinschaft vor einiger Zeit besuchte, sah ich sie im Hof herumgehen, und sie lächelte und sang vor sich hin. Ich sprach sie an, ob ich ihr eine Frage stellen dürfe:
»Si [Ja], Juan«, erwiderte sie.
»Claudia, warum bist du so glücklich?«
»Dios [Gott]«, gab sie zur Antwort.
Dieses junge Mädchen, das ausgesetzt worden war, weil es niemand gewollt hatte, war zur Freundin Gottes geworden.
Wir sind privilegiert, wo immer wir sein mögen, ganz gleich, welchen Platz wir in der Gesellschaft haben, und zwar deshalb, weil wir in unseren Familien, in unserer Umgebung und in unseren Gemeinschaften mit all den Luisitos und Claudias um uns herum zusammen sein dürfen. Indem wir ihnen nahe sind, sind wir Jesus nahe. Das ist das Geheimnis, das ist die im Evangelium Jesu verborgene Wahrheit: Luisito macht Jesus gegenwärtig!
Es wirkt töricht, das zu sagen. Ein Großteil dessen, was ich sage, mag ziemlich töricht wirken, denn das Evangelium ist tatsächlich eine törichte Botschaft. Diese ist so einfach, so erstaunlich, dass man nur schwer glauben kann, dass es wahr ist, genau wie es für Maria schwer gewesen sein muss, zu glauben, dass das Kleine, das sie in ihrem Schoß trug und später in ihren Armen, Gott war! Dieses kleine Kind war auf sie angewiesen, damit sie es nährte, für es sorgte, ja mehr noch: das sie brauchte, um es zu lieben. Ein Kind braucht Liebe. Das »Fleisch gewordene Wort«, Jesus, war darauf angewiesen, geliebt zu werden.
Es ist für uns schwierig, an einen Gott zu glauben, der derart demütig und verletzlich ist. Ist denn Gott nicht in erster Linie und vor allem der Allmächtige, der Schöpfer von Himmel und Erde, der Schöpfer der gesamten Welt der Pflanzen, Fische und Tiere, der Schöpfer von Mann und Frau? Gott ist so groß! Wenn wir zu den Sternen aufsehen und an die Entfernung zwischen den Sternen und unserem Planeten denken; wenn wir uns die Sonnen hinter den Sonnen vorstellen, die Milchstraßen hinter den Milchstraßen, dann kommt uns die Größe Gottes zu Bewusstsein. Und doch wurde genau dieser Gott Fleisch, wurde ein kleines Kind.
Im Johannesevangelium sagt