Tanz- und Liebesstunde. Pavel Kohout

Tanz- und Liebesstunde - Pavel Kohout


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beobachtet, wie sich deine Lippen im Dunkeln bewegten. Für wen betest du?»

      «Für Christine ...»

      «Und für mich nicht?»

      «Doch ...»

      Er wandte den Kopf zum verdunkelten Fenster.

      «Und für die dort vielleicht auch?»

      «Karli!»

      «Warum nicht? Das sind doch auch menschliche Wesen. Gottlob hast du an meiner Seite erlebt, wozu der Feind fähig ist. Diese Erfahrung fehlt Christine. Du hast es verstanden, und das werde ich dir niemals genug danken können, daß sie auch in so schweren Zeiten eine schöne Kindheit erlebte. Gut, ich habe dabei geholfen, aber ich mußte andere für mich sprechen lassen, die Dichter. So bin ich nun mal, ich rede eben nicht viel. Von dir hat sie alle ihre Musikalität! In ein, zwei Jahren muß der Krieg vorbei sein, der Führer hat mit seinem Rückzug die Russen in eine Falle gelockt und auf preußischem Boden ihren westlichen Verbündeten gleichzeitig klargemacht, daß auch sie an Europas Schicksal denken müssen, das heute nur Deutschland verteidigt. Ich weiß, wir werden bald die Vergeltung erleben, die vernichtenden Geheimwaffen. Du zweifelst doch nicht an unserem Sieg?»

      «Nein! Aber was hat das mit ...»

      «Trudl, wir sollten uns darum kümmern, daß unsere Tochter ihn ohne Schrammen an der Seele erlebt, die wir beide an uns erfahren haben.»

      «Ich bete schon dafür, daß sie am Leben bleiben darf.»

      «Schau dir den Weißmüller an! Der ist ein paar Jahre älter als Christine. Willst du vielleicht, daß sie so wie der überlebt?»

      «Er macht den Eindruck eines wohlerzogenen, zuverlässigen jungen Mannes ... Was ist los mit ihm?»

      Sie war verblüfft. Eigentlich war es das erste Mal seit jenen längst vergangenen Zeiten, als die Bewegung in den Anfängen stand und sie beide endlose Gespräche über alles und jeden führten, daß er einen seiner Mitarbeiter erwähnte. Und sogar fortfuhr.

      «Ja, er ist zuverlässiger als der Grube, aber gerade seine Erziehung jagt einem Angst ein. Was ich aus Überzeugung tue, aus dem Bewußtsein erkannter Notwendigkeit, tut er aus Fanatismus.»

      «Der Führer sagt, Fanatismus ist Ausdruck des höchsten Patriotismus.»

      Sie bekam keine Antwort.

      «Stimmt das etwa nicht?»

      Mit der gesunden Hand zog er die Bettdecke bis ans Kinn. Er schaute vor sich hin.

      «Ich habe weder Rang noch Bildung, um mit dem zu streiten, der gerade jetzt der Welt eine neue Dimension eröffnet und dem Leben einen neuen Sinn gibt. Aber ich bin mir sicher, daß er damit nicht Fanatismus meinte, dessen Quelle blinder Gehorsam ist, der leicht gegen das eigene Volk und die eigene Rasse mißbraucht werden kann!»

      «Was hat Christine damit zu tun?»

      «Weißmüller wird vom Geist dieser Festung geformt, weil er noch keine andere Erfahrung gemacht hat. Während für mich Härte gegenüber dem Feind das äußerste Mittel im Kampf für unsere Ideale ist, bedeutet es für ihn das Ziel. Was ich als schicksalhaft unerläßlich ansehe, was ich in Demut und in der Zuversicht ausführe, das kommende Glück meines Volkes möge es reinwaschen, ist für ihn nur Handwerk, reines Handwerk. Es scheint, als machte ihm das sogar Spaß.»

      «Was tut Weißmüller hier eigentlich ...?»

      «Lassen wir das!»

      Sein schroffer Ton überraschte ihn selbst, und er sprach wieder besänftigend.

      «Verzeih ... Mir ist bei dem Gedanken, Christine sollte in diesen Mauern leben, einfach nicht wohl.»

      Der Apparat auf dem Nachttisch klingelte. Stellvertreter Grube meldete, einige Bomberverbände seien angekündigt, die von Nürnberg nach Nordosten abdrehen; er habe bereits befohlen, die Scheinwerfer abzuschalten, und die üblichen Maßnahmen veranlaßt. Der Kommandant gab sich einverstanden und kurbelte ab. Die scharf abgerichteten Schäferhunde begannen zu bellen, von den Hundeführern auf den Wall gebracht, um mit ihrem Spürsinn das erloschene Licht zu ersetzen. Gertrud wußte Bescheid.

      «Sind sie wieder unterwegs?»

      «Ja.»

      «Viele?»

      «Zwei oder drei Verbände.»

      Beide wußten, daß dies eine beliebte Himmelsschiene der Anglo-Amerikaner Richtung Berlin war. Vater und Mutter dachten an die Tochter. Das gab ihr neue Kraft.

      «Karli, wenn uns je etwas gelungen ist, dann ihre Erziehung. Ich werd’ ihr hier nähen beibringen, kochen ...»

      «Gertrud!» Wie immer, wenn er die Geduld verlor, nannte er sie beim vollen Namen. «Sie liebt Musik und Tanz. Dort kann sie zumindest ins Theater und ins Ballett gehen.»

      Ihr Gespür sagte ihr, daß sie ihm diesmal überlegen war, und sie ließ nicht locker.

      «Wegen uns beiden mußte sie die Ballettstunden aufgeben! Warum sollte sie eigentlich gerade hier nicht weitertanzen?»

      «Soll Köpckes Schwester sie unterrichten? Und auftreten wird sie mit dem Kinderhort?»

      «Darüber hab’ ich mir schon Gedanken gemacht, Karli ... Erinnerst du dich, wie Kolatschek kürzlich geprahlt haben soll, wie viele berühmte Künstler er dort hat? Behauptete er nicht, sein Casino im Ghetto steht der Berliner Oper in nichts nach? Grube hat das doch erzählt!»

      «Na, und ...?»

      «Und wenn du den Kolatschek anrufen würdest?»

      «Warum sollte ich den anrufen ...?»

      «Damit er uns einen Tanzlehrer borgt!»

      Er richtete sich im Bett auf wie damals, als sie ihn im Lazarett besuchten.

      «Mit dem Kolatschek will ich privat überhaupt nie etwas zu tun haben!»

      «Warum denn?»

      Er zögerte. Dann versuchte er, seinen Einwand zu umschreiben.

      «Seine und meine Aufträge sind von absolut unterschiedlicher Natur.»

      «Mag sein. Ihr dient aber beide derselben Sache, nicht wahr?»

      Daran hegte er ernsten Zweifel, er hatte ihn nur bisher sich selbst gegenüber nicht präzisiert. Es war sein Grundsatz, daß in der Festung, für die er verantwortlich war, auch gegenüber den erbittertsten Gegnern das Gesetz eingehalten werden mußte. Ihm schien, als herrschten dagegen jenseits des Flusses die Gesetze des Dschungels. Er registrierte sehr wohl, was über die Zusammenstellung der Transporte für den Mitternachtszug gemunkelt wurde, der die wechselnden Ghettobewohner in einer Umsiedlungsaktion jetzt täglich irgendwohin nach Polen brachte. Dabei sollte es wiederholt zu Gewalttätigkeiten, Bestechungen und vielleicht sogar zu Diebstahl am persönlichen Eigentum der Aussiedler gekommen sein. Kleinburger wartete nur auf die nächste Inspektion aus Berlin, um mit ihr ein offenes Wort zu reden. Er war überzeugt, daß die da droben von hier gezielt falsch unterrichtet wurden. Es ging doch in erster Linie, sagte er sich, nicht um das Wohl und Wehe der Juden, sondern um die eigene Sache.

      Das Ghetto wurde in einer ehemaligen Garnisonsstadt der Donaumonarchie errichtet, deren militärische Geometrie und ausgeklügelte Befestigungen dem neuen Zweck vortrefflich entsprachen. Leider übertraf die Anzahl der jetzigen unfreiwilligen Einwohner den Stand der damaligen Besatzung und deren Familien um ein Mehrfaches. Die eigentliche, gewaltig wirkende, wenn auch viel kleinere angrenzende Festung fand wiederum eine besondere Verwendung. In den alten Kasematten hatten diverse Sicherheitsämter Gefangene untergebracht, deren Verurteilung noch bevorstand, und auch ehemalige politische Prominenz aus den besetzten europäischen Ländern, sofern diese irgendwann noch einmal nützlich sein könnte. Im sogenannten vierten Hof erwarteten die bereits Verurteilten ihren Tod.

      Die Meinung des Festungskommandanten über die Judenfrage entsprach der niedrigen Nummer seines Parteibuchs. Er kannte den Führer persönlich noch aus frühen Münchner Zeiten. Nach


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