"Krieg, Seuchen und kein Stück Brot". Ernst Gusenbauer
die polizeiliche Absperrung des Geländes verfügten.
Bald aber war vor allem für die umliegende Geschäftswelt klar, dass sich mit der Etablierung der Lager durchaus lukrative Perspektiven eröffneten, und man war profitablen Geschäften gegenüber nicht mehr länger abgeneigt. Viele Handwerksbetriebe betätigten sich als Zulieferer beim Lagerbau oder stellten direkt Arbeitskräfte zur Verfügung und diese wiederum kamen nicht selten aus weiter entfernten Gegenden.20 Viele Gemischtwarenhändler eröffneten innerhalb des Lagerbereiches Kantinenbetriebe bzw. Marketendereien. In Freistadt verbuchten Gaststätten, private und städtische Quartiergeber vor allem in der Anfangs-, aber auch noch in der Ausbauphase des Lagers zeitweise erhebliche Einnahmen aus der Beherbergung der Bewachungsmannschaften des Kriegsgefangenenlagers. In Braunau erwies sich ein Buchhändler, im Wissen um die Tatsache, dass im gesamten Bezirk eine große Anzahl russischer Kriegsgefangener in der Landwirtschaft eingesetzt war, als sehr geschäftstüchtig. Dank reger Nachfrage erbrachte ein russischer Sprachführer reichlich Gewinn. Die Publikation wurde als ein einfacher „Dolmetscher für den deutschen Landwirt im Verkehr mit seinen russischen Arbeitern“ kostengünstig angeboten und fand tatsächlich regen Absatz.21 Auch veranschaulicht das Beispiel von Marchtrenk, dass die Apotheken rund um den Lagerstandort aus der Seuchenangst Gewinn zu schlagen erhofften.
Bei der nach Kriegsleistungsgesetz vorgenommenen Einverleibung von Grundstücken für die Lagerbauten bemühte sich die Militärverwaltung nach Kräften, den Pachtpreis gehörig zu drücken und daher viele der Liegenschaften als minderwertig zu klassifizieren. Der betroffenen Zivilbevölkerung blieb aufgrund der asymmetrischen Machtverhältnisse auch gar nichts anderes übrig, als dies mehr oder weniger zähneknirschend zur Kenntnis zu nehmen.
Abb. 1 und 2: Seit 1912 waren alle gesetzlichen Maßnahmen für den Kriegsfall vorbereitet.
Die im Rahmen der Grundstücksablösen im Jahre 1914 und 1915 großzügig versprochene vollständige Wiederherstellung des alten Zustandes wurde bei Kriegsende jedoch nicht eingehalten. Der Krieg war verloren und das Kaiserreich zerfallen. Es blieb mangels Personals den Eigentümern vorbehalten, die Flächen zu rekultivieren, was in erstaunlich kurzer Zeit gelang.
Für den Bürgermeister von Freistadt, Theodor Scharitzer, war dieser Krieg nicht nur wegen der Massen von Kriegsgefangenen ein ganz neues Phänomen. Die neue Situation erforderte nämlich von der Bevölkerung in militärischer, aber auch finanzieller Hinsicht die höchste Kraftentfaltung, welche „… in früheren Kriegen nie in so hohem Maße verlangt wurde […] Niemand hätte geahnt, daß es möglich ist, Millionen von Kämpfern gegenüber zu stellen und Millionen von Werten aufzubringen“. Es sei aber, so sein Wunsch, nunmehr kommenden Generationen von Fachleuten vorbehalten, dieses einmalige Völkerringen zu bewerten.
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6 Vgl. Clausewitz, Carl von: Vom Kriege (Hamburg4 2012) 49.
7 Vgl. Keegan, John: Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie (Reinbek bei Hamburg 2006) 21.
8 Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora (München 2014) 10–14.
9 Vgl. Münkler, Herfried: Der Große Krieg (Berlin 2013) 9–11.
10 Vgl. Leonhard, Jörn: Die Büchse der Pandora (München 2014) 146.
11 Vgl. Piper, Ernst: Nacht über Europa (Berlin 2013) 474–475.
12 Vgl. Ferguson, Niall: Der falsche Krieg. Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert (München 2006) 334.
13 Vgl. Laun, Rudolf: Die Haager Landkriegsordnung. Das Übereinkommen über die Gesetze und Gebräuche des Landkriegs (Hannover 1947) 151.
14 Weiland, Hans – Kern, Leopold: In Feindeshand. Die Gefangenschaft im Weltkriege in Einzeldarstellungen (Wien 1931) 9.
15 Vgl. Tagblatt 15.6.1917, 5.
16 Vgl. Vischer, A. L: Die Stacheldrahtkrankeit. Beitrag zur Psychologie der Kriegsgefangenen (Zürich 1918): http://www.tsingtau.info/index.html?lager/stacheldraht.htm [abgerufen am 5.4.2014].
17 Vgl. Linzer Volksblatt 20.9.1918, 5.
18 Vgl. Fellner, Fritz – Himmetsberger, Peter: In Freistadt ansässig. Eine Stadtgeschichte (Weitra/Linz 1991) 51–55.
19 Vgl. Tagespost 21.7.1915, 3.
20 Vgl. Fellner, Fritz: Die Stadt in der Stadt. Das Kriegsgefangenenlager in Freistadt 1914–1918. In: Oberösterreichische Heimatblätter 1 (1989) 3–9. Die Bauarbeiter für das Lager Freistadt kamen aus Böhmen und auch das Bauholz holte man aus dem Böhmerwald.
21 Vgl. Neue Warte am Inn 30.6.1917, 10. Der Kaufpreis für „Rosts russischen Sprachführer“ war durchaus moderat und betrug 1 Krone und 17 Heller.
Entwicklungslinien der Weltkriegsforschung
Die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg setzte bereits unmittelbar nach Kriegsausbruch ein. In Österreich-Ungarn begann die Beschäftigung damit nach der Kriegserklärung an Serbien. Das Wiener Kriegsarchiv hegte dabei die Absicht, eine militärisch gelenkte, populäre Darstellung der Geschichte des Krieges zu publizieren. So wurde folgerichtig eine literarische Gruppe installiert. Hier waren neben Offizieren vor allem bekannte Literaten als aktive Propagandisten tätig.
In den 1917 publizierten „Richtlinien für die Geschichtsschreibung“ galt als vorrangige Zielvorgabe die Aufarbeitung der Heldengeschichte unmittelbar nach Ende des Krieges. Das ganze Projekt scheiterte schließlich an den Differenzen innerhalb der Armeeführung.22
In Deutschland wiederum rückten in der Zwischenkriegszeit zwei thematische Schwerpunkte in den Vordergrund, nämlich die Aufarbeitung der Vorgeschichte zum Ersten Weltkrieg und schließlich die alles dominierende Kriegsschuldfrage. In erster Linie ging es dabei um die Widerlegung der durch den Versailler Vertrag festgelegten deutschen Kriegsschuld. Vor allem deutschnationale rechtsgerichtete Kreise postulierten in diesem Zusammenhang eine tendenziöse Sichtweise, so entstand der Topos von der Unbesiegtheit der Armee im Felde, die durch einen „Dolchstoß“ in der Heimat um die Früchte des Sieges gebracht worden war.
Mitte der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts bemühten sich zwei amerikanische Historiker, nämlich Sidney Fay und Elmar Barnes, um einen Ausgleich der Positionen.23