Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen. Jürgen Bertram

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen - Jürgen Bertram


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Auge vom Schloss ab und presse stattdessen das Ohr dagegen. Schläft sie? Schluchzt sie? Atmet sie noch? Ist sie tot? Oder stellt sie sich tot?

      Ich hämmere mit den Fäusten gegen die Tür, schreie: Mach auf! Bitte, bitte: Mach auf! Ich forme die Hände zu einem Trichter und flüstere durch das Schlüsselloch: Dann sag doch wenigstens was. Irgendwas. Meine Mutter sagt nichts.

      Meine Lieblingsspieler bei Goslar 08 sind Torwart Macha und Mittelläufer Thielemann. Torwart Machas Stärke, schreibt die »Goslarsche Zeitung«, ist seine Reaktionsschnelligkeit auf der Linie. Das zeichnet auch »Todos« Brandt aus, mein Vorbild vom SV Viktoria Bad Grund. Verrate ich Todos, wenn ich nun Torwart Macha bewundere? Ich erkläre beide zu meinen Vorbildern. Und von meinen Mitspielern in der Straßenmannschaft lasse ich mich – wie damals in Bad Grund – Todos rufen.

      Torwart Macha, der als Schlosser in der Kleiderfabrik Odermark arbeitet, trägt während des Spiels eine Mütze, eine Schlägermütze. Sie besteht aus einem Schirm und einer Wölbung, die aussieht wie eine aufgeblasene Kröte. Ein Druckknopf hält die beiden Teile zusammen. Auch ich besorge mir eine Schlägermütze – eine dunkelgraue, wie sie Torwart Macha auf dem Platz benutzt. Ich bezahle sie von meinem Taschengeld, das fünfzig Pfennig in der Woche beträgt. Als mein Vater die Mütze auf meinem Kopf entdeckt, schimpft er: »Du siehst ja aus wie ein Prolet! Schlägermützen sind Proletenmützen. Ich verbiete dir, mit dieser Mütze rumzulaufen!«

      Das Auge und das Ohr beginnen von dem ständigen Druck zu schmerzen. Ich verlasse meinen Posten am Schlüsselloch und knülle eine Seite aus meinem Schreibheft zu einer Kugel zusammen. Nachdem ich sie in die Luft geworfen habe, befördere ich sie mit dem Fuß in Richtung Schlafzimmertür – mal mit dem Spann, mal mit dem Innenrist, mal mit dem Außenrist, mal mit der Pieke. Der Rahmen der Tür, hinter der meine Mutter auf dem Bett liegt und grübelt, ist das Tor. Habe ich nicht eben ein Räuspern gehört? Ist das ein Zeichen, dass die Tür sich gleich öffnet? Die Tür bleibt zu.

      Während meiner Übungen mit der Papierkugel führe ich mir das schönste Erlebnis vor Augen, das ich seit unserem Umzug nach Goslar hatte. Im Stadion am Osterfeld wird das Punktspiel gegen Tuspo Holzminden abgepfiffen. Um den Spielern ganz nahe zu sein, renne ich zu dem Steg, der vom Platz in die Kabinen führt. Als Torwart Macha auf mich zukommt, stelle ich mich ihm in den Weg und blicke zu ihm auf. Ich möchte ihm sagen, wie gut er wieder gehalten hat. Aber ich bringe kein Wort über meine Lippen.

      Torwart Macha legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: »Na, mein Junge?« Auf dem 45 Minuten, also eine Fußballhalbzeit, langen Weg zu unserer Wohnung im Bergtal Nummer 8 fasse ich mir immer wieder auf die Schulter, die Torwart Macha berührt hat, und ich stelle mir vor, wie er hechtet, faustet, fängt. Als ich mit dieser Schulter eine Kiefer streife, bin ich traurig, weil ich glaube, dass ihr Zweig auch Torwart Machas Berührung wegwischt.

      Meine Mutter sagt: Wie kann man sich über einen Krieg freuen? Auch wenn der Koreakrieg dem Erzbergwerk Rammelsberg Vorteile bringt – es bleibt ein Krieg. Und Kriege sind furchtbar. Das weißt du als ehemaliger Soldat doch selbst. Ich weiß es jedenfalls. Ja: Ich wollte immer nach Goslar. Aber glücklich bin ich hier nicht. Hast du gesehen, wie komisch der alte Müller mich neulich angeschaut hat? Der alte Müller mag mich nicht. Seine Frau mag mich auch nicht. Die grüßt mich nicht mal. Niemand mag mich in Goslar. Und ich mag mich auch nicht. Mein Bruder mag mich. Aber der lebt in Berlin, an der Spree.

      Mittelläufer Thielemann, den ich genauso bewundere wie Torwart Macha, arbeitet als Schriftsetzer in einer Buchdruckerei in der Bäckerstraße. Auch Fritze Flügge, ein anderer Kriegskamerad meines Vaters, arbeitet dort. Mein Vater ist nicht gut zu sprechen auf ihn. Fritze Flügge, sagt er, verkehrt nachts in Bars und trinkt dort Sekt. Fritze Flügge sei ein Lebemann. Nur die Haute wo Laute trinke Sekt. Fritze Flügge gehöre aber gar nicht zur Haute wo Laute. Mein Vater trinkt Weinbrand, aber nie Sekt und nur ganz selten Korn. »Korn«, sagt er, »trinken die Proleten.«

      Ich mag Fritze Flügge gern. Ich glaube, er mich auch. Weil er weiß, wie sehr ich Mittelläufer Thielemann bewundere, nimmt er mich irgendwann mit zu seiner Arbeitsstelle. Ich gehe durch ein Spalier vibrierender, ratternder Maschinen, die Blöcke aus Blei von sich stoßen. An einer der Maschinen sitzt der Mittelläufer Thielemann, der einzige Spieler von Goslar 08, der sich auch im bitterkalten Winter die Ärmel hochkrempelt. Sogar in die Niedersachsen-Auswahl hat man ihn schon berufen. Als er mich entdeckt, hält er kurz mit seiner Arbeit inne und lächelt mir zu. Mir. Nur mir. Wenn ich in Mathe mal wieder eine Fünf geschrieben habe oder wenn sich meine Mutter, wie heute, im Schlafzimmer einschließt, denke ich auch an dieses Lächeln.

      Der Arzt sagt: Es liegt an den Wechseljahren. In den Wechseljahren kommt es bei Frauen oft vor, dass sie tagelang traurig sind. Mit Tabletten kriegen wir das schon wieder hin. Auch halb ausgebrütete Hühnereier sind gut für die Nerven. Der Schnabel des Kükens muss schon zu sehen sein. Augen zu – und runter damit! Aber wenn das alles nichts hilft, dann kommen wir um ein paar Wochen Woltorf nicht herum.

      Woltorf? Wenn man irgendwas Dummes anstellt, dann sagen die Leute: Du kommst nach Woltorf, in die Klapsmühle. Meine Mutter soll nicht nach Woltorf. – Mach auf! Bitte, bitte: Mach auf!

      Abends. Mein Vater deckt den Tisch. Es gibt – wie gestern und vorgestern und vergangene Woche und vorigen Monat und letztes Jahr und vorletztes Jahr – Schweinehack mit Zwiebeln, Hausmacher Leberwurst, gute Butter, Griebenschmalz und Harzkäse, in dem es, wenn Brummer über ihn hergefallen sind, vor Würmern wimmelt. Mein Vater untersucht ihn deshalb jedes Mal vor dem Verzehr mit einer Lupe.

      Als Zutaten gibt es Rettiche und Radieschen aus unserem eigenen Garten. Die schmalen Wege zwischen den Beeten habe ich, stundenlang einen Fuß vor den anderen setzend, getreten. Mit einer Schnur hat mein Vater nachgeprüft, ob sie auch schnurgerade waren. Verliefen sie nicht »auf Kante«, musste ich zur Strafe Unkraut jäten. In Bad Grund habe ich mal beobachtet, wie ein wütender Vater seinen Sohn mit einer Zaunlatte verfolgte. Der Sohn lief in seiner Not einfach quer über die Gartenbeete. Der Vater benutzte die schnurgeraden Wege zwischen den Beeten. Und so entkam der Sohn seinem Vater.

      Die Tür öffnet sich. Meine Mutter kommt herein. Sie setzt sich, als sei nichts gewesen, an den Tisch. Das Blaupunkt-Radio spielt Schlagermusik. Rudi Schuricke singt.

      Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,

      Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,

      Ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,

      Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.

      Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament

      Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt.

      Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,

      Hör von fern, wie es singt:

      Bella, bella, bella Marie,

      Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh,

      Bella, bella, bella Marie,

      Vergiss mich nie.

      Meine Mutter singt mit. Laut. Sehr laut. Zu laut.

      5 Ostwind

      »Jawoll, gnädige Frau!« – »Selbstverständlich, gnädige Frau!« – »Das kommt nie wieder vor, gnädige Frau!« – »Darauf können Sie sich verlassen, gnädige Frau!«

      Mein Vater steht kerzengerade am Schreibtisch, als er mit der gnädigen Frau telefoniert. Sie ist mit dem kaufmännischen Direktor des Bergwerks verheiratet und wohnt mit ihm in dem Stockwerk über uns. Niemand in unserer Straße zweifelt daran, dass sie – im Gegensatz zu dem Lebemann Fritze Flügge – zur Haute wo Laute gehört. Sie besitzt ein Auto mit Schiebedach, fährt manchmal nach Braunschweig zum Theater, und kaum kündigt sich der Winter mit den ersten Flocken an, hüllt sie sich in einen flauschigen Pelzmantel, den der schlanke Kopf eines Fuchses abschließt.

      Ein lebendiger Fuchs torkelte mal, mit hellem Schaum vor dem Maul, bis zu unserer Veranda. Tollwut! Revierförster Kolle hat ihn mit zwei Schüssen erledigt, mit einem Schuss ins Herz und einem Schuss in den Kopf. So rot wie das Blut, das nach den Schüssen


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