Stark wie die Mark. Rudolf Stratz
jemand rief durch das Heulen des Windes: „Der Kaiser ist vor einer Stunde auf dem Bahnhof Westend angekommen ...“
Der Kaiser? ... Da tragen sie ja drüben, was sterblich an ihm war, auf den Schultern seiner Getreuen die Stufen hinauf in das Portal ... Nein ... der Kaiser ist tot ... Es lebe der Kaiser ... ja ... wenn er nur lebte ... der duldende, krank aus dem Süden kommende Mann ...
Weiterhin, am Kupfergraben, nach der Museumsinsel zu, war es auf einmal menschenleer und öde. Unheimlich öde, zwischen Häusern und Fluss in der schwarzen Nacht, dem leichentuchfarbenen Weiss. Nur der Sturm stöhnte und klagte ohne Unterlass. Achim und Ilse wateten einsam durch den Schnee. Vor ihrer beider Augen stand noch, in fast schauriger Grösse, das Bild des Leichenzugs. Ihre Nerven bebten. Auf einmal machte Ilse von der Zültz halt und brach in wildes Weinen aus.
„Um Gottes willen — was hast du denn?“
„Ach Gott ... ich bin so allein auf der Welt ...“
„Was?“
„Niemand will mich ... Niemand braucht mich ... Niemand hat mich ein bisschen lieb ... Meine Mutter ist tot ... Mein Vater ...“
„Aber Ilse ...“
„Was wird denn nur aus mir? Manchmal fürchte ich mich so ... hilf mir, Achim ... bitte ... bitte ... ich hab’ sonst niemand ...“
„Wie soll ich dir denn helfen, Ilse ... sag doch nur ...“
Er schaute ihr fragend in das von Sturm und Winterfrost blasse Gesicht mit den nassen Augen und den kalten roten Lippen. Plötzlich schlang sie die Arme um ihn und küsste ihn durstig auf den Mund. Er erwiderte den Kuss. Und sie den seinen. Sie küssten sich hastig, heiss, wohl ein dutzendmal. Dann sagte sie: „Ich hab’ dich so lieb ...“
Und wieder nach einem Kuss von ihm: „... so lieb, Achim ...“
Und dann — und ihre Stimme klang schon getröstet: „Wenn ich nur dich hab’ ...“
„Ilse ... liebe Ilse ...“
Er küsste sie wieder. Sie hielt glücklich still. Dann bat sie leise, immer noch mit geschlossenen Lidern: „Ach ... jetzt ist’s gut! ... jetzt bring mich nach Hause! Bitte, nach Hause ...“
Sie gingen Arm in Arm durch die Menschen der Friedrichstrasse bis zum Oranienburger Tor. Sie redeten fast nichts mehr, bis sie im Hof standen und läuteten und Kaspar von der Zültz persönlich mit Licht und Schlüssel die Treppe hinabgestiegen kam und seine Tochter in Empfang nahm. Bei seinem Anblick verabschiedete sich Achim von Bornim rasch. Er ging in die Nacht hinaus. Er fühlte sich wie im Traum. Er blieb es die folgenden Tage. Er war es noch, als er mit gezogenem Degen im Trauerspalier Unter den Linden stand ... Ganz Berlin in Trauer. Ein ganzes Volk. Ein ganzes Reich. Die Linden in den Preussenfarben: schwarzen Fahnen und weissem Schnee, der, in mauerhohen Hügeln zusammengeschaufelt, die Bordschwelle einrahmte. Es war schneidend kalt. Zehn Grad und mehr. Schwerer grauer Himmel. Blutrot flammten die offenen Pechpfannen, fahlgelb leuchtete das Gas in den umflorten Kandelabern durch die trübe Tagesluft. Vom Dom herab reihten sich bis zum Tiergarten die Truppen ... die Veteranen ... die Studenten ... Zum letztenmal senkten sich die Banner vor Wilhelm dem Siegreichen auf seinem langen, langsamen, von Trauermärschen durchschütterten Leichenzug nach dem Brandenburger Tor. ‚Vale, senex imperator‘ stand dort oben in riesigen Goldlettern. ‚Fahr wohl, du greiser Kaiser!‘ ... Und mitten in dieser Ergriffenheit, dieser feierlichen Nacht und Nähe des Todes war plötzlich in dem Leutnant von Bornim wieder der Ruf des Lebens: ... Sie ist so jung ... sie hat mich so lieb ...
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