Jan und die Kindsräuber. Carlo Andersen

Jan und die Kindsräuber - Carlo Andersen


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lässt es sich ja denken, dass sie ihrem Hätschelkind manchmal eine Ansichtskarte aus Paris schicken. Aber das müssen wir erst einmal etwas näher untersuchen.»

      In erstaunlich kurzer Zeit stand Jan neben Holgers Platz, und es entspann sich in aller Gemütlichkeit ein Kampf, bei dem Holger den kürzeren zog. Die Kameraden folgten der Balgerei mit strahlenden Augen und aufmunternden Zurufen, und sie jubelten laut, als Jan zum Schluss den restlichen Teil der Pariser Postkarte mit dem Arc de Triomphe eroberte. Tief beschämt musste Holger seine Niederlage zugeben, und er versprach, den Schokoladestengel am Nachmittag zu liefern.

      «Du kannst ihn Erling geben», erklärte Jan grossmütig. «Eigentlich hat er das Rätsel gelöst, und er ist ja immer wild auf Schokolade.»

      «Hm, aber Milchschokolade, keine bittere», bestimmte Erling, der unerschrocken auf das dritte Butterbrot — herrlich mit Servelat belegt — losging. «Und vergiss nicht, Holger, dass es ein Fünfundzwanziger-Stengel sein muss!»

      Die Anteilnahme an der kleinen Wette verlor sich ebenso rasch, wie sie entstanden war. Die Buben hatten noch viel zu ordnen, ehe der Mathematiklehrer erschien. Einige Privatfehden wurden in den verschiedenen Bänken entschieden, Papierkugeln flogen in allen Richtungen über die blonden Köpfe, und Henning, der unvergleichliche Zeichenkünstler der Klasse, verewigte Ras auf der Wandtafel. Nur die wenigsten beschäftigten sich mit Archimedes, Pythagoras und anderen grossen Männern des Faches. Als die Minuten vergingen, verbreitete sich glückseliger Optimismus: Es schien wirklich Hoffnung zu bestehen, dass Ras heute überhaupt nicht auftauchte!

      «Was mag nur mit Sir Jack los sein?» fragte Jan.

      «Er fehlt; vielleicht ist er krank», antwortete Erling, indem er den Rest seines Schulfrühstücks mit einem entsagenden Seufzer zusammenpackte. «Oder er hilft Ras bei der Quadratur des Kreises. Ich sehe jedoch nicht ein, warum deshalb meine Ruhe beim Essen gestört werden muss.»

      «Sir Jack schwänzt wahrscheinlich», meinte Jesper.

      «Du redest wie ein Schafskopf», entgegnete Erling in mildem, nachsichtigem Tone. «Hast du jemals erlebt, dass Sir Jack geschwänzt hat?»

      «Nein, aber...»

      «Kein Aber, Kleiner! Spar deine Worte, bis du in der Mathematik drankommst!»

      Beim Gedanken an diese unangenehme Möglichkeit schauderte Jesper, und die Buben lachten. Es war eine bekannte Tatsache, dass Jesper kaum als Mathematikprofessor enden würde.

      Das Problem «Sir Jack» war in den nächsten Minuten Gegenstand der Erörterungen. Die meisten vertraten die Ansicht, dass ein Schwänzen nicht in Frage kam. Jack Morton war in der Klasse sehr beliebt; viele Schulkameraden — darunter Jan und Erling — waren oft im Mortonschen Hause im Ryvangen eingeladen. Schiffsreeder Morton wirkte zwar im ersten Augenblick etwas streng, aber man kam sehr bald auf guten Fuss mit ihm. Anscheinend belustigte es ihn sehr, dass sein Sohn in der Schule den Spitznamen «Sir Jack» erhalten hatte, weil die Familie Morton ursprünglich englischer Abstammung war. Als junger Mann war Jacks Vater im Jahre 1912 nach Dänemark gekommen, um die dänische Schiffahrt an Ort und Stelle zu studieren. In jenem Jahr überraschte Dänemark die Welt damit, dass es das erste Dieselmotorschiff, die «Selandia», auf die lange Reise nach dem Fernen Osten sandte. Nicht zumindest herrschte grosse Überraschung in England, wo der damalige Marineminister Winston Churchill die Worte sprach: «Wir sind daran gewöhnt, dass die Dänen in der Landwirtschaft unsere Lehrmeister sind, aber es bedeutet unstreitig eine Überraschung, dass sie uns auch auf dem Gebiet der Seefahrt belehren!» In London, wo die «Selandia» auf ihrer ersten Reise anlief, war das Interesse für das neue Wunderschiff sehr gross, so dass es ganz natürlich schien, dass James Morton — der älteste Sohn der berühmten Schiffsreederfamilie — nach Dänemark geschickt wurde, um ein paar Jahre bei der Firma Burmeister & Wain zu arbeiten, welche die grossen Dieselmotoren der «Selandia» geliefert hatte. Allerdings sollte James Morton nach England zurückkehren, sobald er die Verhältnisse gründlich studiert hatte, doch im Laufe der Zeit gewann er das kleine, friedliche Dänemark immer lieber, zumal er sich mit einer jungen Dänin verlobte und verheiratete. Er schuf sich in Kopenhagen ein Heim und gründete mit finanzieller Hilfe seiner englischen Verwandten «Mortons Reederei», die binnen zehn Jahren die grösste Reederei des Landes wurde. Mortons Handelsschiffe zeigten die dänische Flagge in Melbourne und Yokohama, in New York und Singapur; seine eleganten Passagierdampfer bereisten das Mittelmeer und die norwegischen Fjorde. Als der Dampfer «Oceanic» einmal am Kopenhagener Kai lag, hatte Jack Morton Jan und Erling mit an Bord genommen. Die Buben waren ganz überwältigt gewesen von dem schwimmenden Palast, der mit gutem Grund «Königin der Nordsee» genannt wurde, und sie hegten die stille Hoffnung, dass sie einmal Gelegenheit haben würden, mit diesem Wunderschiff eine Fahrt zu machen. Aber das konnte noch sehr lange dauern, denn Jan und Erling waren überzeugt, dass schon ein zweitägiger Aufenthalt auf dem Schiff das Taschengeld eines Vierteljahres verschlingen würde.

      An all dies dachte Jan, während der Lärm in der Klasse immer mehr anschwoll. So vertieft war er in seine Gedanken, dass er die Stille, die jählings entstand, gar nicht merkte. Erst als Erling ihn anstiess, stellte er fest, dass der Lehrer Rasmussen das Schulzimmer betreten hatte, und rasch sprang er wie die übrigen Knaben auf.

      Der Zeichenkünstler Henning war so verdattert beim plötzlichen Erscheinen des Lehrers, dass er wie angenagelt beim Katheder stehenblieb. Die gutgelungene Karikatur von «Ras» grinste auf der Wandtafel, und Hennings Augen wanderten mit höchst unglücklichem Ausdruck vom Lehrer zur Tafel und von der Tafel wieder zum Lehrer. Ein einziges Mal schaute er seine Klassenkameraden an, wie um Hilfe in seiner schwierigen Lage zu suchen.

      «Setzt euch!» sagte Rasmussen, während er langsam zum Katheder schritt. Er warf einen flüchtigen Blick auf die Tafel und wandte sich hierauf an den unglücklichen Henning: «Wisch die Tafel ab, Henning, und setz dich dann auf deinen Platz!»

      Die Jungen staunten. Sie hatten eine gewaltige Explosion erwartet, und nun geschah nicht das geringste. Was war denn nur mit Ras los? Sonst konnte er doch gar nicht genug donnern, wenn ihm etwas nicht passte! Und warum machte er ein so ernstes Gesicht?

      Nachdem Henning auf seinem Platz angelangt war, liess Lehrer Rasmussen sich hinter dem Katheder nieder. Er überblickte die gespannt zu ihm aufschauende Knabenschar und sagte ernst: «Jack fehlt heute, weil in seinem Elternhaus etwas sehr Schlimmes geschehen ist. Sein kleiner Bruder ist entführt worden!»

      Durch die Klasse ging ein erschrockenes Gemurmel: «Entführt?»

      Der Lehrer nickte: «Ja. Es ist kaum zu glauben, dass so etwas sich in unserem friedlichen Lande ereignen kann, aber nichtsdestoweniger ist es der Fall. Irgendein Halunke hat das Kind in einem unbewachten Augenblick geraubt. Das ist ein gemeines Verbrechen. Meiner Meinung nach sollte Kindsraub ebenso hart bestraft werden wie Mord!»

      «Allerdings!» sagte Jan vor sich hin und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten.

      Zweites kapitel

      Ein kühner Plan

      Kriminalkommissar Helmer nahm die Zigarre aus dem Munde, ergriff den Hörer des läutenden Telephons und meldete sich.

      «Wer? Schiffsreeder Morton? Ja, ja, führen Sie ihn sofort zu mir.»

      Eine halbe Minute später wurde die Türe geöffnet, und James Morton betrat Helmers Büro.

      «Guten Tag, Helmer», grüsste er.

      «Guten Morgen, Morton. Gibt es etwas Neues?»

      Morton liess sich auf den nächsten Stuhl fallen und trocknete sich mit seinem Taschentuch die Stirne. Einige Sekunden blieb er unbeweglich sitzen und starrte düsteren Blickes vor sich hin. Dann seufzte er und zog einen zusammengefalteten Briefbogen aus der Tasche, den er Helmer reichte.

      «Das habe ich vor einer halben Stunde erhalten. Lesen Sie!»

      Helmer faltete den Bogen auseinander. Es war gewöhnliches, billiges Schreibmaschinenpapier in Oktavformat, dicht beschrieben mit Blockbuchstaben in schwarzer Tinte. Der Kommissar beugte sich über den Brief und las:

      «An Herrn Schiffsreeder


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