Der Irrläufer. Gudmund Vindland
über meinem Jungen schließt.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich mit ihm kamen. Ich merkte, daß sie sich die Zeit genommen hatten, das Ruderboot in Schlepptau zu nehmen. Magnus lag auf dem Boden des Bootes, eingehüllt in eine Persenning. Er rührte sich nicht. Ich war ganz steif vor Angst und Schrecken.
«Habt ihr ihn gerettet? Wird er’s überstehen?»
Eirik musterte mich scharf und antwortete kurz: «Das weiß ich nicht. Lauf ins Haus, weck Aase und bitt sie, ein Krankenzimmer fertig zu machen. Und beeil dich gefälligst!»
Ich flog. Weckte mehrere auf, eh ich Aase fand. Großer Aufstand. Und dann brachten sie Magnus. Ich konnte gerade einen Blick auf sein Gesicht werfen. Es sah blaß und verrückt aus – aber nicht tot.
Ich ging hinter den anderen die Treppe hinauf, aber oben drehte Eirik sich um: «Du gehst raus und wartest draußen auf mich.»
«Ja, aber ...»
«Verstanden?!»
Ein anderer Leiter schob mich die Treppe hinunter und zur Tür hinaus, die mit einem Knall geschlossen wurde. Ich sank in mich zusammen und ließ meinen Tränen freien Lauf. Ich hatte Angst. Versuchte, in all dem Chaos klar zu denken. Warum reagiert Magnus so? Warum hat er so entsetzliche Angst vor sich und seinen Gefühlen? Ich bin doch nicht gefährlich!
Es war ein schöner Morgen. Die Sonne stand hoch am Himmel und wärmte schon ein bißchen. Mein Bein tat schrecklich weh – alles übrige auch. Ich saß auf der Treppe und war todunglücklich.
Es läutete zur Morgenandacht. Aase kam heraus und schlug die Tür sofort hinter sich zu. Ich sprang auf: «Wie geht es Magnus?»
«Ja, wir haben ihn gerettet. Jetzt ist er außer Gefahr.» Sie sah mich vorwurfsvoll an und zog den Mund noch mehr zusammen als jemals zuvor.
«Du glaubst doch wohl nicht, daß das meine Schuld ist?»
«Nicht?» blaffte Aase und ging.
Gott sei Dank! Es geht ihm besser! Ich jubelte innerlich, aber dann kam die Unruhe wieder durch meinen Bauch heraufgekrochen, in die Arme, bis in die Haarwurzeln. Was hatte Aase nur gemeint? Was für eine Teufelei heckten sie denn nun wieder aus? Die Frage zitterte in mir, und zum Schluß konnte ich einfach nicht mehr dasitzen wie ein Idiot. Ich hämmerte gegen die Tür. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie plötzlich vom Lagerleiter höchstpersönlich aufgerissen wurde.
«Ach, so, Yngve! Bei dir ist wohl nie Schluß mit dem Lärm!»
«Wie geht’s Magnus?»
«Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber Magnus wird das alles heil überstehen, diesmal ging’s nicht nach Plan!»
Ich begriff nicht, was er meinte.
«Komm jetzt mit ins Büro. Laß uns das mit Gottes Hilfe hinter uns bringen!»
«Wovon redest du eigentlich?»
«Setz dich! Jetzt mußt du die Wahrheit erzählen. Magnus hat nämlich gebeichtet. Er hat alles zugegeben, und das waren ja wirklich keine Kleinigkeiten. Ich bin zutiefst schockiert, das muß ich wirklich sagen. Jedenfalls, Gottes Gnade kennt keine Grenzen. Magnus wird die Vergebung seiner Sünden erlangen. Dafür, daß er versuchte, sich das Leben zu nehmen ... und für die schrecklichen Taten, zu denen du ihn verleitet hast!»
Ich war völlig baff. Er fuhr fort: «Das war wirklich im letzten Moment, Yngve. Du solltest Gott dafür danken, daß ich so schnell war. Ich war schon ziemlich nah an seinem Boot, als er gesprungen ist. Er war wie vom Teufel besessen ... oder vielleicht von dir? Was hast du mit dem Jungen gemacht? Wie hast du all dieses Elend zustande gebracht? Antworte!»
Ich kam schnell wieder zu mir. Meine Stärke kam zurück mit der Gewißheit, daß nichts von all dem Gerede mit mir zu tun hatte. Ich hatte nichts Schlimmes getan. «Eins sag ich dir: Ich bin mir völlig darüber im klaren, was ich gemacht hab ... was Magnus und ich zusammen gemacht haben. Und ich schäme mich deswegen nicht. Weder vor dir noch vor Gott noch vor sonst irgendwem!»
Eirik blies sich gewaltig auf, während ich sprach: «Danke, daß du dich so klar ausdrückst, junger Mann. Das macht es mir leichter, meine Pflicht zu tun. Du mußt sofort hier weg! Solche wie dich wollen wir nicht in unseren Lagern. Des weiteren werde ich die Eltern ... deine und die von Magnus ... über diese Vorfälle unterrichten. Und falls mir das nötig erscheint, werde ich auch deine Schule informieren. Das wird die Zeit zeigen ... Wir werden jedenfalls in Zukunft ein waches Auge auf dich haben!» Der Mann konnte sich nur mühsam beherrschen.
Ich antwortete so klar und deutlich, wie ich nur konnte: «Du hast kein Recht, irgendwas zu berichten. Magnus und ich haben uns nichts zuleide getan, und er wollte nicht Selbstmord begehen. Er wollte allein sein, und du bist daran schuld, daß er gesprungen ist, weil du so blöd warst und ihn erschreckt hast. Und außerdem weigere ich mich, nach Hause zu fahren.»
«In diesem Fall, junger Mann, werde ich dich persönlich nach Oslo zurückfahren.»
«Nein, danke, Herr Lagergeneral!»
«Raus! Raus mit dir, sage ich! In meinem Lager lasse ich mir so was nicht bieten!»
«Ich habe für Kost und Unterbringung für eine ganze Woche bezahlt ...»
«Ja, natürlich, geizig bist du auch noch, du kleiner ...» Er riß sich mit Gewalt zusammen, öffnete eine Schublade und holte eine kleine Kasse hervor. «Dieses Lager dauert acht Tage und kostet hundertfünfzig Kronen. Du warst dreieinhalb Tage hier, also bekommst du hundert Kronen zurück. Das ist mehr, als dir zusteht ... verschwinde jetzt!» zischte er und schmiß den Hunderter über den Schreibtisch.
«So hab ich das nicht gemeint. Ich muß hierbleiben, weil Magnus mich braucht!»
«Dich braucht!» Der Mann explodierte. «Dich braucht er am allerwenigsten auf der Welt! Er braucht Gooottt! Er braucht Gottes Vergebung für seine Süüünnnnnden!»
«Aber, Magnus hat doch gar nicht Schlimmes getan!»
«Sag mal, Yngve, wie alt bist du eigentlich?» Er versuchte auf einmal, freundlich und beherrscht zu klingen.
Ich begriff, worauf er hinauswollte, und eine Welle des Triumphs durchfuhr mich: «Ich werde im Oktober sechzehn.» Die Augen auf der anderen Schreibtischseite verengten sich, und genauso freundlich redete ich weiter: «Magnus ist im April sechzehn geworden ...»
Aus dem zusammengekniffenen Gesicht zischte es: «Dafür kannst du deinem ... kannst froh sein, junger Mann!» Dann brüllte er: «Wenn es nämlich umgekehrt gewesen wäre, hätte ich dich persönlich wegen Verführung Minderjähriger angezeigt. Denn das hast du doch eigentlich getan, oder etwa nicht? Du bist listig wie eine Schlange! Du bist erfahren! Für dich war es doch kein Problem, einen unschuldigen Jungen wie Magnus aufs Kreuz zu legen! Das arme Kind!» Plötzlich sah er aus, als wollte er sich in die Hosen machen. Er beugte sich vornüber und zischte: «Großer Gott! Wie lange geht das denn schon so?»
«Das geht dich nichts an!» Ich war hellwach.
Der Mann explodierte wieder: «Was du treibst, ist gegen das norwegische Gesetz, weil es pervers ist. Das ist gegen Gottes Gebot! Das ist ein Verbrechen wider den Heiligen Geist!»
Immer noch konnte ich mich beherrschen und unterbrach ihn: «Ich kenne einen Pastor, der das genaue Gegenteil behauptet. Der nennt Homosexualität Nächstenliebe. Der hat übrigens auch mit Magnus geschlafen!»
Der Mann schnappte nach Luft. «Wer, in aller Welt ... Nein! Das ist gelogen! Du lügst, du kleiner Teufel! Du versuchst, Gottes und der Kirche eigene Diener anzuschwärzen! Du bist ein besessener Psychopath! Du bist von Satan besessen ...»
Ich biß die Zähne zusammen und wartete auf eine Pause, um den Namen von Christian Teufelpastor sagen zu können, aber irgend etwas hielt mich zurück. Nicht einmal Christian hatte es verdient, diesem geisteskranken Unmenschen auf der anderen Tischseite in die Hände zu fallen.
In dem Moment schnappte er zu: «Ja, und wer ist das? Von wem redest du? Antworte!»