Die zwölfte Stunde und andere Novellen. Rudolf Stratz
draussen empfing mich nichts als die stockdunkle stille Nacht und über ihr gewölbt die strahlende Sternenpracht des Winterhimmels. Ich tappte zwanzig, dreissig Schritte weit in den Schnee hinein, ich spähte rechts und links — umsonst ... kein Lichtpunkt war zu entdecken.
Aber aus dem Bergschrund vom Ende des Kessels her klang wieder das leise, geheimnisvolle „Hallo!“
Ich zögerte. Und plötzlich fiel mir ein: In jener Richtung lag der „End der Welt-Ferner“, ein gefürchteter Gletscher mit klaffenden, unergründlichen Eisspalten und trügerischen Schneebrücken. Sollte ich mich in der Dunkelheit, abseits vom Wege, in dies Labyrinth von Schlünden und Gefahren locken lassen?
Ein Schrecken erfasste mich. Ich wankte in die Hütte zurück und wickelte mich wieder in die Wolldecken. Ringsum was alles still, und endlich fand mich der Schlaf.
Als ich am Morgen neugekräftigt erwachte, strahlte draussen alles von Sonne und Licht. Blendend weisse Schneefelder, tiefblauer Himmel, eiskalte, aber völlig klare Luft — weiss Gott: ... Die Engländer waren zu beneiden, die jetzt wohl auf der Spitze des Eiskofels standen.
Seltsam war nur eins: dass der Hüttenraum so gar keine Spuren ihres Aufenthalts mehr aufwies! Wohl bringt ein Führer vor dem Ausmarsch alles in Ordnung. Aber irgendein Zeichen bleibt doch immer zurück, etwas Asche im Herd, ein Papierfetzen in irgendeiner Ecke, feuchte Stellen vom Schnee der Nagelschuhe am Boden.
Hier war nichts zu sehen, und in das Hüttenbuch hatten sie sich auch nicht eingetragen. Das letzte Datum wies den 29. September.
Ich las nichts weiter von den gleichgültigen Namen der damaligen Ersteiger, sondern klappte das Buch zu. Wunderbar ... sehr wunderbar! Sollte ich etwa das Ganze, von dem gestrigen Abend bis jetzt, geträumt haben?
Aber nein ... da vor der Pforte zogen sich ja zwanzig Schritt weit die Schneestapfen hin, die ich in der Nacht gemacht, um den Engländern zu folgen. Und von der anderen Seite her führten meine ungleichmässigen, weiten Fussspuren vom Abend direkt auf die Hüttentüre zu.
Aber wo waren die anderen gegangen? Ich mochte schauen und schauen ... rings um das Haus lag weiss und unberührt der Schnee und breitete sich stundenweit, von keinem Fusstritt befleckt, als reiner Mantel über die Hügel und Täler der Hochgebirgsmulde.
Ich fing an zu frösteln! Geträumt hatte ich nicht. Ich hatte diese Leute gesehen und gesprochen ... ich war ihnen noch in die Nacht hinaus nachgegangen ... und doch ...
Mir graute. In aller Eile raffte ich meine Sachen zusammen, verschloss die Hütte und wanderte, als sässe mir ein Gespenst im Nacken, zu Tale.
Heute brauchte ich nicht zu befürchten, dass mich der Nebel überraschte. In wenigen Stunden sah ich das verschneite Dörfchen unter mir liegen und wieder eine Stunde später trat ich erschöpft und erhitzt bei dem Kuraten ein.
Der Hochwürdige hatte ein Teleskop in der Hand, mit dem er meine Ankunft auf der Spitze des Eiskofels feststellen wollte, und erhob sich erstaunt, als ich statt dessen plötzlich vor ihm stand.
Ich liess ihm keine Zeit zum Fragen. „Ist gestern noch eine Partie mit einem Führer auf die Hütte gegangen?“ forschte ich erregt.
„Ich bitte ...“ der Kurat lächelte erstaunt und gutmütig ... „wo soll denn eine andere Partie herkommen? Und gar mit einem Führer? ... Heut ... am heiligen Neujahrstag geht mir kein Führer vor der Messe fort ...“
„Also es ist sicher niemand hinauf ...?“
„Ich bitte ... nein! ... Aber wissen Sie, was ich fürcht’, wann ich Sie anschaue ...? Sie haben sich ein Fieber geholt ... da heroben!“
„Mag sein!“ sagte ich und trat verstört wieder auf die Strasse. Betäubt, wie vor den Kopf geschlagen, stand ich da und starrte die Dorfgasse entlang.
Und da ... mein Herz begann freudig zu pochen — da kam ja der Führer der geheimnisvollen Fremden seines Weges! Ich erkannte ihn sofort wieder an seinem gebräunten Gesicht und dunklen Schnurrbart, wie er da, die Hände in den Taschen der Lodenjoppe, durch den Schnee stapfte. Nur sah er lange nicht so finster und verbissen aus wie diese Nacht.
Also waren die Engländer einfach irgendwo umgekehrt und alles gut!
„Grüss Gott!“ ... Ich bot dem Mann die Hand, die er erstaunt und zögernd nahm ... „... Warum habt Ihr mir denn nichts gesagt, dass Ihr heut früh von der Hütte gleich wieder heruntergestiegen seid?“
„Heut’ früh ... von der Hütten oben?“ Der Mann schüttelte den Kopf ... „... Herr ... heut’ früh war ich in der heiligen Messe. Das ständ’ einem Bergführer übel an, die zu versäumen!“
„Ja ... aber ... es ist doch geschehen!“
Der Führer nickte ernst. „Wohl, Herr! Einmal ist’s geschehen ... im letzten Herbst ... Da hat sich mein Bruder durch die drei Engländer bereden lassen ... und ist mit ihnen statt in die Kirche auf den Eiskofel gegangen ...“
„Im letzten Herbst?“
„Am 29. September. Ich hab’ ihm ein Marterl setzen lassen, oben am Weg, wo sie die Geissbuben zum letztenmal geschaut haben. Denn gefunden hat man nie nix mehr von ihnen. Gott weiss, in welcher Spalte im End der Welt-Ferner die liegen ...“
„Aber ich hab’ sie gesehen ... heut nacht ... in der Hütte ...“
Der Tiroler stutzte und schaute mich misstrauisch an. Dann senkte er den Kopf, nahm die Pfeife aus dem Mund und starrte lange nachdenklich in den zertrampelten Schnee. „... ’s kunnt’ schon sein!“ ... sagte er endlich ... „... Die armen Seelen wollen leicht auch an Silvester haben ...“
Der Erzähler verstummte. In der finsteren Ecke glühte die Zigarre noch einmal auf und flog dann in feurigem Bogen quer durch das dämmernde Zimmer auf das Ofenblech.
Eine kurze Pause. Dann fragte der andere: „Und das haben Sie selbst erlebt?“
„Warum nicht ...?“
„Weil’s keine Gespenster gibt!“
„Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde ...“ die Stimme in der Ecke brach ab. Es ward still im Zimmer, und eintönig rauschte draussen der Regen ...
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