Im Sternbild des Zentauren. Verena Rank

Im Sternbild des Zentauren - Verena Rank


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      Mein Magen zieht sich zu einem schweren Klumpen zusammen, während Säure meine Kehle hinaufkriecht.

      „Das heißt, ich werde Kreon nie wiedersehen“, sage ich erstickt. Der Gedanke daran ist unerträglich. Wie soll ich ohne meinen Bruder weiterleben? Wir schleichen uns an dem noch immer schlafenden Trebesius vorbei und Lilaja sperrt mich wieder ein, bevor sie den Schlüssel zurück zum Wächter legt.

      „Ich werde alles tun, um Hektor zu retten, das verspreche ich.“ Lilaja sieht mich von der anderen Seite des Gitters ermutigend an.

      „Und ich … kann mich wirklich nicht von ihm verabschieden?“, frage ich und umklammere die Gitterstäbe meines Gefängnisses so fest, dass meine Knöchel weiß hervorstehen.

      „Tut mir leid“, antwortet Lilaja stockend und sieht zu mir auf. „Sobald ich den Stein und auch Kreon habe, werde ich das Portal öffnen und ihn hindurch lassen. Danach mache ich mich aus dem Staub.“ Das Licht einer Fackel zaubert funkelnde Tränenspuren auf ihre Wangen, während sie ihre kleinen Hände um meine schließt. Ein Schluchzen löst sich aus meiner Kehle, meine Beine beginnen so sehr zu zittern, dass meine Vorderläufe nachgeben und ich zu Boden sinke.

      „Ich hasse ihn“, sage ich mit bebenden Schultern. „Ich hasse Kreon, für das, was er mir angetan hat.“

      Ich nehme Lilajas Hand auf meiner Schulter wahr und doch habe ich das Gefühl, meinen Körper nicht mehr zu spüren. Alles geht in einem überwältigenden, lähmenden Schmerz unter.

      „Ich muss gehen“, höre ich Lilaja sagen, doch es klingt, als wäre sie bereits weit weg. Ich schließe die Augen und krümme mich zusammen. Plötzlich ist es, als würde die Welt über mir einstürzen und mich unter ihren Trümmern begraben. Ich bin allein …

      10 Jahre später, in der Welt der Menschen …

      Ben

      Das schrille Klingeln meines Handyweckers reißt mich mitten aus dem Schlaf und katapultiert mich mit einer Wucht in den Tag, dass ich ein paar Sekunden brauche, um richtig wach zu werden. Noch ganz benommen taste ich nach dem Handy auf dem Nachttisch, finde es und lasse es verstummen. Mein Herz rast immer noch wie verrückt, so real war dieser verdammte Traum gerade eben! Seit ich denken kann, verfolgt er mich. Leise fluchend stehe ich auf und versuche mich zu beruhigen. Auf dem Weg ins Bad rufe ich mir die Bilder meines ungewollten, nächtlichen Abenteuers in Erinnerung. Warum träume ich immer wieder dasselbe? Mein Körper schwebt schwerelos im Himmel … zumindest glaube ich das, denn ich bin umgeben von dichten Wolken. Ich schaue auf den Gipfel eines Berges und auf ein gewaltiges Gebäude. Wenn ich hinunterblicke, sehe ich meine Füße in der Luft baumeln. Die Watteberge aus Wolken sind so dick, dass ich darunter keine Landschaft erkennen kann. Jemand ruft nach mir, es ist ganz klar die Stimme einer Frau. Ich kann sie nicht verstehen, aber ich weiß, dass sie mich meint und ihr Rufen wird immer verzweifelter. Ich versuche irgendwie näher heranzukommen, rudere mit Armen und Beinen, aber je mehr ich mich bewege, umso stärker werde ich von einer unsichtbaren Macht zurückgedrängt. Heute hat mich mein Wecker davor bewahrt, ins Nichts zu fallen, denn das ist es, was mich sonst aus dem Schlaf reißt. Ich stürze dann mit solch einer Heftigkeit in die Tiefe, dass es mir den Atem aus der Lunge presst und ich meist mit einem Aufschrei wach werde. Ich bin schon an der Badezimmertür, als mein Handy klingelt. Zurück am Bett werfe ich einen Blick auf das Display und muss automatisch lächeln, während ich das Gespräch annehme.

      „Bennniiiiiii!“, tönt es schrill und für diese Uhrzeit viel zu fröhlich am anderen Ende der Leitung. Noch bevor ich etwas erwidern kann, folgt so lauter Gesang, dass ich das Handy einen Meter vom Ohr weghalten muss. „Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday to youuuu … Happy Birthday, mein allerliebster, bester Freuheuuund Bennileiiin, happy Birthday to youuu!“

      Ich schüttele lachend den Kopf und stehe auf. Meine beste Freundin hat wirklich einen an der Klatsche, aber man muss sie einfach lieben.

      „Bennilein?“, erwidere ich gespielt entsetzt. „Ernsthaft? Wann gewöhnst du dir diese schwulen Spitznamen endlich ab?“

      „Niemals!“ Sabrina lacht überdreht. „Alles Gute zum Geburtstag, Schatzi! Schon wach?“

      „Danke. Jetzt auf jeden Fall. Um diese Uhrzeit schon so aufgekratzt zu sein, ist pervers, weißt du das?“

      Erneutes Lachen. „Ich freue mich schon auf heute Abend. Soll ich dich abholen?“

      Ich überlege kurz. „Kreon und Anna haben gefragt, ob wir noch vorbeikommen, bevor wir weggehen, also wäre es schön, wenn du gegen sieben bei mir sein könntest.“

      Ich unterrichte Sport und Mathematik an einer Realschule und fahre meistens mit dem Fahrrad zur Arbeit. Es gibt nichts Besseres, als morgens durch den Englischen Garten zu fahren und die Natur zu genießen. Mein Geburtstag fällt dieses Jahr auf den letzten Schultag vor den Sommerferien und so mache ich mich gut gelaunt auf den Weg. Schon nach kurzer Zeit erreiche ich den Englischen Garten und verlangsame mein Tempo. Die Reifen meines Fahrrades knirschen auf dem Kies, ansonsten hört man um diese Uhrzeit nur Vogelgezwitscher. Wie jeden Tag komme ich am Monopteros vorbei und halte kurz an. Seit ich denken kann, übt der kleine, griechische Rundtempel eine Anziehungskraft auf mich aus, deren Grund ich mir nicht erklären kann. Ich blicke hinauf, wo sich die weißen Säulen des Tempels majestätisch über einem Hügel erheben und die Strahlen der Morgensonne willkommen heißen. Je länger ich ihn ansehe, umso stärker wird diese rätselhafte Sehnsucht nach etwas, das ich nicht mal benennen kann. Es ist einfach ein Gefühl, als würde ich etwas vermissen, aber ich weiß nicht was. Sabrina und ich haben schon viel Zeit da oben verbracht, aber wir haben noch nicht herausgefunden, warum dieser Ort mit meinen Gefühlen Achterbahn fährt. Ich seufze leise und will gerade wieder auf meinen Sattel steigen, um weiterzufahren, als ich ein vertrautes Flüstern vernehme. Es ist als hörte ich den Wind, obwohl sich kein Lüftchen regt. Und dieser Wind trägt eine Stimme mit sich, die sonst niemand bemerkt. Mich fröstelt und meine Nackenhaare stellen sich auf, während ich mein Fahrrad abstelle und der Stimme folge. Schon nach ein paar Metern sehe ich, wer, oder besser gesagt, was mich ruft und meine Hilfe braucht. Ich sehe mich kurz um, um mich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe ist. Dann laufe ich die restlichen Schritte und stehe vor einem wunderschönen Lindenbaum. Ein Ast wurde gewaltsam abgerissen und hängt nur noch lose an ein paar Holzfasern. Ganz sanft lege ich meine Hände auf den Ast und schließe die Augen. In meinem Kopf manifestiert sich ein Bild von ein paar betrunkenen Typen, die sich einen Spaß daraus machen, sich gewaltsam an den Ast zu hängen. Sie rütteln und zerren daran, bis er nachgibt und schließlich abbricht. Lachend und grölend machen sich diese Idioten danach aus dem Staub. Wut steigt in mir auf und ich verfluche diese beschissenen Kerle. Mit geschlossenen Lidern verbinde ich mein ganzes Sein mit dem Baum und werde Eins mit der Natur. Schon nach einigen Sekunden erfasst mich eine Energiewelle, die von meinen Füßen aufwärts durch mich hindurch strömt und sich bis in meine Fingerspitzen ausbreitet. Ich atme tief ein und aus … mit dem Herzschlag des Wachsens und Blühens, der meinen Körper und Geist jedes Mal in eine kurze, aber intensive Trance versetzt. Ich spüre, wie die Linde heilt, wie der Ast sich aufrichtet und wieder da anwächst, wo er hingehört. Zufrieden öffne ich die Augen und trete einen Schritt zurück. Als der Wind sanft durch die Blätter fährt, hört es sich an, wie ein geflüstertes ‚Danke‘. Ich nicke lächelnd, bevor ich mich umdrehe und eilig zu meinem Fahrrad zurückkehre. Mein Blick schweift nervös umher, doch ich kann niemanden sehen, der etwas von meiner Aktion mitbekommen hätte.

      Es ist kurz vor acht, als ich das Klassenzimmer betrete und meine Schüler begrüße. Dass ich heute Geburtstag habe, posaune ich nicht groß in der Gegend herum, also bekomme ich von den meisten der Neuntklässler wie gewohnt ein müdes und weniger enthusiastisches ‚Morgen‘ zurück. Auf die erste Reihe hingegen kann ich mich wie immer verlassen. Lydia, Sophie und Anna Maria sehen mich mit verklärten Blicken an und flöten einstimmig: „Guten Morgen, Herr Wagner.“ Als ich ihnen ein freundliches Lächeln zuwerfe, könnte ich schwören, ein Seufzen zu hören. Nachdem ich meine Tasche auf dem Schreibtisch abgelegt habe, zähle ich kurz durch und stelle fest, dass einer fehlt. Ich rolle mit den Augen und werfe einen Blick


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