Der Torso. Elisabeth Langgässer

Der Torso - Elisabeth Langgässer


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Christus war auch ein Schild angebracht. Seine Inschrift war bis heute die gleiche, wie sie Pilatus entworfen hatte: J. N. R. J. — die Enttäuschung darüber, daß es im Grund hätte heißen sollen: er behauptet nur, dieser König zu sein, hatte im Lauf der Jahrhunderte an Heftigkeit eingebüßt. Die beiden Männner, welche den Pfosten, das Schild und die große Schaufel, um den Pfosten in die Erde zu graben, auf ihren Schultern trugen, setzten alles unter dem Wegekreuz ab; der Dritte stellte den Werkzeugkasten, Hammer, Zange und Nägel daneben und spuckte ermunternd aus.

      Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte für alle, welche das Dorf auf dem breiten Paßweg betraten, besser: befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein. Man kam also überein, das Schild kurz vor dem Wegekreuz anzubringen, gewissermaßen als Gruß, den die Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte. Leider stellte sich aber heraus, daß der Pfosten dann in den Pflasterbelag einer Tankstelle hätte gesetzt werden müssen — eine Sache, die sich von selbst verbot, da die Wagen, besonders die größeren, dann am Wenden behindert waren. Die Männer schleppten also den Pfosten noch ein Stück weiter hinaus bis zu der Gemeindewiese und wollten schon mit der Arbeit beginnen, als ihnen auffiel, daß diese Stelle bereits zu weit von dem Ortsschild entfernt war, das den Namen angab und die Gemeinde, zu welcher der Flecken gehörte. Wenn also das Dorf den Vorzug dieses Schildes und seiner Inschrift für sich beanspruchen wollte, mußte das Schild wieder näherrücken — am besten gerade dem Kreuz gegenüber, so daß Wagen und Fußgänger zwischen beiden hätten passieren müssen.

      Dieser Vorschlag, von dem Mann mit den Nägeln und dem Hammer gemacht, fand Beifall. Die beiden anderen luden von neuem den Pfosten auf ihre Schultern und schleppten ihn vor das Kreuz. Nun sollte also das Schild mit der Inschrift zu dem Wegekreuz senkrecht stehen; doch zeigte es sich, daß die uralte Buche, welche gerade hier ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt hätte.

      Es blieb daher nur noch die andere Seite neben dem Herrenkreuz, und da die erste, die in das Pflaster der Tankstelle überging, gewissermaßen den Platz des Schächers zur Linken bezeichnet hätte, wurde jetzt der Platz zur Rechten gewählt und endgültig beibehalten. Zwei Männer hoben die Erde aus, der dritte nagelte rasch das Schild mit wuchtigen Schlägen auf; dann stellten sie den Pfosten gemeinsam in die Grube und rammten ihn rings von allen Seiten mit größeren Feldsteinen an.

      Ihre Tätigkeit blieb nicht unbeachtet. Schulkinder machten sich gegenseitig die Ehre streitig, dabei zu helfen, den Hammer, die Nägel hinzureichen und passende Steine zu suchen; auch einige Frauen blieben stehen, um die Inschrift genau zu studieren. Zwei Nonnen, welche die Blumenvase zu Füßen des Kreuzes aufs neue füllten, blickten einander unsicher an, bevor sie weitergingen. Bei den Männern, die von der Holzarbeit oder vom Acker kamen, war die Wirkung verschieden: einige lachten, andere schüttelten nur den Kopf, ohne etwas zu sagen; die Mehrzahl blieb davon unberührt und gab weder Beifall, noch Ablehnung kund, sondern war gleichgültig, wie sich die Sache auch immer entwickeln würde. Im ganzen genommen konnten die. Männer mit der Wirkung zufrieden sein. Der Pfosten, kerzengerade, trug das Schild mit der weithin sichtbaren Inschrift, die Nachmittagssonne glitt wie ein Finger über die zollgroßen Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch auf einer Tafel . . .

      Auch der sterbende Christus, dessen blasses, blutüberronnenes Haupt im Tod nach der rechten Seite geneigt war, schien sich mit letzter Kraft zu bemühen, die Inschrift aufzunehmen: man merkte, sie ging ihn gleichfalls an, welcher bisher von den Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war. Unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden, würde sie ihm nun für lange Zeit schwarz auf weiß gegenüberstehen.

      Als die Männer den Kreuzigungsort verließen und ihr Handwerkszeug wieder zusammenpackten, blickten alle drei noch einmal befriedigt zu dem Schild mit der Inschrift auf. Sie lautete: »In diesem Kurort sind Juden unerwünscht.«

      DIE SIPPE AUF DEM BERG UND IM TAL

      Ob er heute noch lebt, kann ich wirklich nicht sagen — mein Mann und ich haben schon lange nichts mehr von diesem Zweig der Verwandschaft gehört, und überhaupt bin ich selbst kein Freund von langen Familiengeschichten: sie sind meistens ganz uninteressant. Aber es ist natürlich gut möglich, daß man ihn doch noch am Ende in ein Irrenhaus stecken mußte, den Vetter Alban samt seiner Behauptung: er, ganz allein er, sei schuld. Man weiß ja, wie hartnäckig solche Leute an ihren Ideen hängen; mit solchen Leuten meine ich die, die nicht eigentlich wahnsinnig sind, sondern nur von einem Gedanken besessen, den andere Menschen nicht einsehen wollen, weil ihre Weltordnung sonst gestört oder am Ende nicht haltbar wäre — man kennt das an sich selbst. Für gewöhnlich helfen sich dann die Normalen, indem sie die fixe Idee dieser Menschen mit anderen fixen Ideen in einen Suppentopf werfen: zum Beispiel mit der fixen Idee, der Kaiser von China zu sein, oder ein großer Erfinder oder der wiederkehrende Christus oder sonst eine Abstrusität. Dann ist natürlich alles ganz klar, dann sagt man mit vollem Recht: verrückt! und beruhigt sich wieder dabei. Wahrscheinlich hat seine Frau, die Mathilde, seine Schwiegertochter, sein großer Enkel und die übrige Sippshaft das auch so gemacht, denn sie mußten ja weiterleben. Sie mußten für ihren schönen Hof und den Kolonialwarenladen leben, in dem man selbst im Jahr 43 noch allerlei kaufen konnte; vor allem aber mußte die arme Mathilde für ihre Hoffnung, den ältesten Sohn noch einmal wiederzusehen, leben — ihren Liebling, der in Stalingrad blieb, vielleicht ist er jetzt wieder da.

      Im übrigen finde ich, daß sie es alle im Grund gar nicht nötig hatten, sich über den Alban groß zu erheben und sich klüger zu dünken als er. Die ganze Familie, ich sage es mit einigem Widerstreben, war etwas rappelig. Gescheite Leute, gar keine Frage, aber alle ein bißchen gespritzt. Sehr musikalisch, ein Onkel zum Beispiel mußte jedes Jahr nach Bayreuth oder nach Salzburg fahren, ein anderer ging nach Amerika, überhaupt sind sehr viele ausgewandert, einer gar in die Türkei.

      Das alles: ich meine der Zustand dieser großen, verzweigten Familie, ist mir erst klar geworden, als ich in dem entsetzlichen Sommer der ersten Großangriffe mit den Kindern nach Hessen hinunterfuhr, um die Kleinen zu evakuieren. Es war nach der Zerstörung von Hamburg, und wir erwarteten in Berlin, als nächste daran zu sein. Man hörte nur noch von ’coventrysieren’ und ’ ausradieren’ reden — diese Ausdrücke haben mich immer an die schönste deutsche Ballade erinnert; an die ’Kraniche des Ibykus’ nämlich. Ahnt man vielleicht schon, wieso? Kurzum: ich fuhr nach Hessen hinunter, nach dem Städtchen Amöneburg. ’Städtchen’ heißt es von früher her; heute ist es nichts weiter als eine Handvoll von jeder Bedeutung und jedem Wohlstand verlassener. Häuser, einem Amtsgericht, einem geistlichen Stift und einer Burgruine — so einsam und so gänzlich verloren wie nur ein Stück Mittelalter es sein kann, das hoch auf einem vulkanischen Kegel inmitten der Ebene liegt und seinen Verfall den vier Winden preisgibt, die um die Ringmauer wehen. Am schönsten sind dort oben die Wolken und die mächtigen alten Nußbäume; damals war ein richtiges Nüssejahr, jeder Baum hing so brechend voll, daß er gestützt werden mußte. Daran entsinne ich mich noch genau, vielleicht, weil diese gestützten Bäume für mein Gefühl eine dunkle Verbindung mit meinen Verwandten hatten, deren zweie im Rollstuhl gefahren wurden: sie hatten ein schweres Rückenmarkleiden, und das Mädchen, das sie abwechselnd schob, war selber tuberkulös, Die Schwindsucht ist da oben nicht selten; mein Schwiegervater, der Schiffsarzt Meander, heilte sie erst auf hoher See zwischen Ceylon und Borneo aus.

      Von ihm, diesem kühnen und klugen Menschen, der leider schon lange tot ist, gibt es ein Kinderbildhen, und wahrscheinlich war dieses Daguerrotyp der geheime Grund für meinen Entshluß, zuerst nach Amöneburg zu fahren und nicht, wie mein Mann mir geraten hatte, zu der Verwandtschaft des Alban Klein, welche den Hof und den Kaufmannsladen im Fuldaishen haben. Man sieht da auf diesem Daguerrotyp das Kind an dem Knie seiner Mutter, einer schwarz gekleideten Bauernfrau, lehnen,wie der Photograph es hingestellt hatte: jeder Zoll ein geborener Lord. Am eigentümlichsten sind seine Augen — scharfe, sehr helle und kühle Augen, die etwas Unbeirrbares haben, einen Blick, der damals schon durch und durch sah, und dem man nicht ausweichen kann. Wahrscheinlich war ich selbst auf der Suche nach einer Antwort — Frage und Antwort lagen im Grunde nach beieinander, wir wußten es nur noch nicht.


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