Swanns Vergeltung. Shira Anthony
alles in Ordnung?«, erkundigte sich Carl.
Jimmy wischte den Matsch vom Schalltrichter seines Instruments. »Ja. Alles gut.«
»Sind die nicht süß zusammen?«, fragte Mark mit mädchenhafter Piepsstimme. »Zum Kotzen, oder?«
Jimmy konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass das ganze Footballteam – natürlich inklusive Danny – gesehen hatte, wie er auf den Hintern gefallen war, musste er jetzt auch noch vor ihren Augen anfangen zu heulen. Er wollte sterben. Einfach verschwinden.
»Ooh, schau mal, Danny«, fuhr Van fort. »Zebby flennt. Tust du doch, Zebby, oder? Möchtest du ein Taschentuch, damit du dir die Nase putzen kannst?« Er warf ein versifftes Handtuch nach Jimmy, der es wegschlug.
»Van, ich will wirklich nicht…«
»Verfickte Arschlöcher«, zischte Carl.
Jimmy wusste, dass Carl ihm helfen wollte, kam sich deswegen aber nur noch jämmerlicher vor. Hilfloser als je zuvor. Hauptsächlich, weil er tatsächlich Hilfe nötig hatte. Die Tränen rannen ihm nun zahlreicher die Wangen hinunter. So sollte Danny ihn nicht sehen, mit laufender Nase und verquollenen Augen. Doch als sich ihre Blicke für einen Moment trafen, las er statt der erwarteten Verachtung etwas ganz anderes in Dannys Augen. Mitleid? Anteilnahme?
Aber warum sollte Danny sich dafür interessieren, wie es Jimmy ging? Schließlich war Jimmy genau das, wofür Van und die anderen Jungs ihn hielten: eine Schwuchtel, ein Homo, einer vom anderen Ufer. Einer, der niemals beliebt sein würde.
Die Footballspieler steigerten sich immer mehr in ihr Gelächter hinein.
»Lass uns hier verschwinden.« Carl zog Jimmy zum Eingang des Übungsraums des Orchesters.
»Ich steh auf deinen Look, Zebby.« Van zeigte auf Jimmys schlammverdreckte Jeans. »Sieht aus, als hätte ein Hund sein Geschäft auf deinem armseligen Arsch verrichtet. Aber so eine Scheiße geschieht Typen wie dir nur recht.«
Es schnürte Jimmy die Kehle zu. Als würde ihn jemand würgen. Er keuchte und hustete, und immer noch hinterließen die Tränen brennende Spuren auf seinem Gesicht. Panik stieg in ihm hoch, als er nach seinem Inhalator tastete und ihm aufging, dass er ihn in seinem Instrumentenkoffer vergessen hatte.
»Schon gut, Jimmy. Atme einfach weiter.« Carl drückte ihm etwas in die Hand. Den vermissten Inhalator, wie Jimmy einen Moment später feststellte. Nach einigem Röcheln und Prusten gelang es ihm endlich, die Lippen darum zu schließen und den Pumpmechanismus zu bedienen. Schon leicht benommen, würde er keine weitere Minute durchhalten, bevor er ohnmächtig werden würde.
Endlich entfaltete die Medizin ihre Wirkung und Jimmy schnappte nach Luft, während Carl ihm nervös auf den Rücken klopfte. »Alles in Ordnung?«
Jimmy nickte, brachte jedoch kein Wort heraus. Dafür schämte er sich zu sehr. Er folgte Carl durch die Tür zum Übungsraum.
»Zebby, Zebby, Zebby«, hallten die spöttischen Rufe der anderen hinter ihm durch den Flur.
Jimmy schob eine Hand in die Hosentasche. Wenn er den Tagebucheintrag berührte, den er vor Monaten geschrieben hatte, ging es ihm bestimmt gleich besser. Er kannte jede Zeile auswendig, aber das spielte keine Rolle.
Die Seite war verschwunden.
»Geht's dir gut?«, hakte Carl nach.
»Hast du zufällig ein Stück Papier gesehen?« Jimmy klopfte das Herz bis zum Hals. Ihm wurde schwindelig. Übel.
»Papier? Nö.« Carl runzelte die Stirn. »Hausaufgaben?«
Jimmy schüttelte den Kopf. »Ich muss es wiederfinden.« Er legte sein Horn auf dem nächstbesten Tisch ab und stürzte zur Tür hinaus, ungeachtet der Enge in seiner Brust.
Die Sonne ging bereits über dem Footballfeld unter, als Jimmy auf Knien den Bereich unter der offenen Tribüne und entlang des Zauns absuchte, wo das Gras nicht gemäht worden war. In dem Eintrag hatte er sein Herz ausgeschüttet. Dem Tagebuch alles anvertraut, was er nicht mal Carl erzählen konnte, geschweige denn Danny. Neue Tränen brannten ihm in den Augen, während er die weggeworfenen Bonbonpapierchen und alten Hausaufgabenhefte durchwühlte, die sich unter den Aluminiumsitzen angesammelt hatten.
Nichts.
»Hey.« Carls Stimme brachte Jimmy in die Gegenwart zurück. »Es wird dunkel. Egal, wonach du suchst, was hältst du davon, wenn wir morgen zusammen weitersuchen?«
Jimmy wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und nickte. Dann folgte er Carl zurück zum Gebäude. Ihm war bang ums Herz, und das Gefühl breitete sich langsam in seine Arme und Beine aus. Er wollte sterben. Sich verstecken.
Gerade als er durch die Tür trat, entdeckte er eine Gestalt, die in der Nähe des Eingangs zur Umkleidekabine am Zaun lehnte. Dunkelheit und Tränen verschleierten seine Sicht, sodass er sich nicht ganz sicher sein konnte, aber er hegte den Verdacht, dass es Danny war.
»Jimmy? Kommst du?«, wollte Carl wissen.
»Ja.« Jimmy spähte noch einmal zu der Gestalt hinüber, doch wer auch immer es gewesen sein mochte, war verschwunden.
Kapitel 1
Graham Swann schwang sich auf sein Rennrad. Die Sonne stand schon so hoch am Himmel, dass die feuchte Shorts lange vor Beginn des Schlusslaufs getrocknet sein würde.
Nebel bildete sich über dem Asphalt und verwandelte die Bäume zu beiden Seiten der Rennstrecke in verschwommene Umrisse. Nach den ersten drei Meilen kam der Cape Fear River in Sicht. Funkelnd spiegelte sich das Licht auf der Oberfläche und durchdrang den trüben Nebelschleier.
Der Fahrer vor Graham wurde langsamer, um schnell einen Schluck zu trinken. Graham erkannte ihn an seinem unglaublich durchtrainierten Körper und den türkisfarbenen Streifen an der Seite der Triathlon-Shorts. Auf Oberarmen und Waden trug der Mann seine Teilnehmernummer – 247 – und sein Alter. Mit 32 war er genauso alt wie Graham. Sie waren in derselben Schwimmergruppe gestartet, aber der Typ hatte das Ziel einige Minuten früher erreicht. Was angesichts seiner starken Schultern und der muskulösen Brust keine Überraschung war.
Für die nächsten Meilen hielt Graham das Tempo, indem er Nummer 247 auf den Fersen blieb. Mehr als einmal musste er sich daran erinnern, dass es nicht darum ging, den knackigen Hintern von 247 zu bewundern, sondern um das Erreichen der Ziellinie. Er biss sich auf die Wange, als er sich dabei erwischte, wie er sich die Lippen leckte. Tri-Shorts überließen nichts der Vorstellungskraft.
247 fuhr etwas langsamer als Graham. Doch bei einem Triathlon dieser Länge kam es darauf an, ein möglichst gleichmäßiges Tempo zu halten. Ein paar Meter vor der Markierung auf halber Strecke gab Graham sich einen Schubs und zog vorbei. Nummer 247 winkte ihm zu und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, das dafür sorgte, dass Grahams Magen einen Salto schlug. Kastanienbraune Locken lugten in 247s Nacken unter dem Helm hervor, und Graham hätte zu gern gewusst, von welcher Farbe die Augen hinter der verspiegelten Brille waren.
Konzentrier dich! Graham trat härter in die Pedale. An der Vierzig-Meilen-Markierung überholte er einige weitere Fahrer und konnte bereits ein paar der jüngeren Konkurrenten sehen, als er in die Übergangszone einfuhr.
Die letzten paar Meter bis zum Fahrradständer schob er das Rad, tauschte seine Fahrrad- gegen Laufschuhe, und ein paar Sekunden später schlugen seine Füße bereits auf dem Asphalt auf. Die warme Brise roch salzig und er wünschte, er hätte guten Gewissens einen Urlaub in Terris Strandhaus einschieben können. Hoffentlich entspannte sich die Lage im Büro ein bisschen, wenn die neuen Mitarbeiter nächste Woche anfingen.
Konzentrier dich! Wenn er sich nicht für die Dauer dieses kürzeren Wettkampfs konzentrieren konnte, wie sollte er dann einen Ironman-Triathlon bewältigen?
Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, fiel ihm auf, dass sich jemand an seine Fersen geheftet hatte. Ein Blick über die Schulter verriet ihm, dass Nummer 247 sein Tempo von einer Meile in sieben Minuten