Sportgeschichte in 60 Minuten. Andreas Luh
Die gegenwartsgenetische sporthistorische Orientierungsleistung
Historische Kenntnisse sind unverzichtbar für das Verständnis gegenwärtiger Institutionen und Verhaltensweisen, indem sie deren Ursachen, ihre Entstehungsbedingungen und ihre Entwicklung aufdecken (Ueberhorst, 1980). Zum Beispiel ist die komplizierte, sich vielfältig überschneidende Organisationsstruktur des bundesdeutschen Vereins- und Verbandssports mit dem DOSB an der Spitze, mit den Landessportbünden, mit den Spitzenverbänden und deren Untergliederungen nicht organisationssoziologisch erklärbar, „sondern wird nur verständlich, wenn man das zähe Ringen unterschiedlicher sportlicher und politischer Interessengruppen um einen Neu- und Wiederaufbau in den Jahren 1945–1950 kennt“ (Gissel, 2000, S.320).
Die strukturgeschichtliche sporthistorische Orientierungsleistung
Die strukturgeschichtliche Betrachtungsweise lenkt den Blick des Historikers auf „relativ dauerhafte, schwer veränderbare Phänomene, [auf strukturelle] Wirklichkeitsschichten mit langsamer Veränderungsgeschwindigkeit [und] auf die Erfassung übergreifender Zusammenhänge“ (Kocka, 1997, S.192), die Spielräume und Bedingungen menschlichen Handelns aufdecken. Bewegungskultur und Sport waren in sogenannten vormodernen Gesellschaften eingebunden in andere gesellschaftliche Teilbereiche wie Religion, Standeskultur, Militär oder Erziehung. In sogenannten modernen Gesellschaften erbringt der Sport zwar weiterhin Leistungen für andere gesellschaftliche Teilbereiche, nimmt allerdings als institutionell ausgeformter, eigenständiger gesellschaftlicher Teilbereich eine eigene Gestalt an (Strohmeyer, 1984a; 1984b; Luh, 2008; Eisenberg, 2010).
Die problemorientierte sporthistorische Orientierungsleistung
Die problemorientierte sporthistorische Betrachtungsweise untersucht in diachronen Längsschnitten, wie menschliche Gemeinschaften mit bestimmten Problemstellungen umgegangen sind. Durch den historischen Blick auf begangene, unbegangene und ungangbare Wege, auf gescheiterte und erfolgreiche Lösungen vergangener gesellschaftlicher Konflikte und Lebenssituationen können Orientierungs- und Entscheidungshilfen bei aktuellen Problemstellungen im Sport gewonnen werden (Ueberhorst, 1980; Bernett, 1981; Uffelmann, 1997). In solcher Perspektive kann Sportgeschichte helfen zu klären, was Gewalt im körperlichen Umgang miteinander bedeutet, und welche (nicht) akzeptierten Ursachen, Formen und Intensitäten Gewalt zwischen Zuschauern und Gewalt zwischen sportlich Agierenden historisch und gegenwärtig haben kann. Dabei ist zu klären, was Gesellschaften historisch gesehen überhaupt als Gewalt definieren und wie sie mit Gewalt im Sport umgehen (Elias, 2003).
Die Erweiterung des Erfahrungshorizonts
Der Blick auf Bewegungsformen, sportliche Sinnrichtungen und Normen sowie Organisationsformen zeitlich und räumlich sehr weit entfernter, fremder Kulturen liefert einen bedeutsamen sporthistorischen Erfahrungsschatz (Ueberhorst, 1980; Gissel, 2000). Sport, wie er heute betrieben, organisiert, verstanden und weiterentwickelt wird, ist nicht das vernünftige Endprodukt einer zielgerichteten historischen Entwicklung, sondern nur eine historische Möglichkeit von Sportkultur. Erst der historisch-anthropologische Blick auf indianische, polynesische, ostasiatische u.a. Bewegungskulturen ermöglicht eine konstruktiv-kritische Distanz zu den eigenen sportlichen Verhaltensweisen und ein Bewusstsein von Alternativen.
Politische Bildung und ideologiekritische Orientierungsleistungen
Analysen eines politisch instrumentalisierten Sports finden sich insbesondere beim Umgang mit der NS- und der DDR-Sportgeschichte (Bernett, 1983; Spitzer, Teichler & Reinartz, 1998), da es in diesen politischen Systemen zu einer besonders engen Verflechtung zwischen Sport und Politik gekommen ist. Aber auch den Organisationsformen des Breiten- und Spitzensports in einem freiheitlich-demokratischen System liegen politische Rahmenbedingungen und konkrete, andere sportpolitische Entscheidungen zugrunde, die es zu analysieren und nicht als unpolitisch zu verklären gilt (Güldenpfennig, 1992; Niese, 1997). Es gehört zur aufklärerisch-kritischen Funktion von Sportgeschichte, die verschiedenen Sinnrichtungen, Wertvorstellungen, Normen und ideologischen Momente aufzuzeigen, die in sportliches Handeln eingebettet sind (Bernett, 1981).
Die Befriedigung sporthistorischer Neugier
Sporthistorische Museen, Ausstellungen und populärwissenschaftliche Bildbände zu Sportlerpersönlichkeiten, Sportverbänden, Sportarten, Sportereignissen u.a. haben insbesondere bei anstehenden Olympischen Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften Konjunktur. Und selbstverständlich hat die „zweckfreie Beschäftigung mit Historie als Vergnügen bereitende Freizeitbeschäftigung“ (Ueberhorst, 1980, S.16–17) ihre Berechtigung, wenn solche sporthistorischen Aufarbeitungen nicht hinter den sporthistorischen Forschungsstand zurückfallen und zu einer unreflektierten Traditionsstiftung und Legendenbildung beitragen.
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