Pathos. Solmaz Khorsand
zwei Ereignisse, denn sowohl das plötzlich eintreffende Widerfahrnis als auch die provozierte Gefühlsreaktion auf dieses „Reizereignis“ fallen laut der Literaturwissenschafterin Cornelia Zumbusch in die Bedeutung des Wortes.2
„Am Beginn steht das Pathos der Welt, und wenn wir darauf antworten, indem wir erstaunen, erschrecken, fasziniert oder angeekelt sind, geht dieses Antworten mit dem Pathos einher“, erklärt Jan Juhani Steinmann, Lehrbeauftragter für Philosophie an der Universität Wien, im Gespräch. „Keiner kann über das Pathos verfügen. Es trifft uns unsere Erfahrung, wie uns die Welt eben trifft.“
In der Antike spielte das Pathos gleich in mehreren Disziplinen eine tragende Rolle. Aristoteles schreibt ihm in seiner Poetik eine reinigende Kraft zu. So ist das Pathos in der antiken Tragödie die Voraussetzung für die Katharsis. Das Leiden des Helden soll das Publikum faszinieren, unterhalten und dermaßen bewegen, dass es sich selbst zu reflektieren beginnt. Wenn es dann mitgerissen, erschüttert und überwältigt ist von Eleos, Schauer, und Phoebus, Furcht, wird es gereinigt sein von all seinen Affekten.
In der Rhetorik definiert Aristoteles das Pathos als eine der drei Säulen der Persuasion, der Überzeugung: Ethos, Logos (Pragma) und Pathos. Während sich Ethos auf die Glaubwürdigkeit und den Charakter des Redners bezieht, Logos (Pragma) auf den Inhalt und die Argumente einer Rede, soll das Pathos Emotionen beim Publikum hervorrufen.
Dabei untersteht das Pathos in der Rhetorik immer dem Argument, dem Logos, und ist kein Selbstläufer. Der emotionale „Appell zum reinen Mitfühlen“ darf nicht der „Reflexion zuvorkommen“3. Damit wurde schon in der Antike der größte Verdacht, der dem Einsatz von Pathos bis heute anhaftet, artikuliert: die Manipulation. Das Gefühl kennt nun einmal kein Pro und Kontra. Losgelöst von jeder Logik und Vernunft eignet sich das Pathos hervorragend als Mittel der Demagogie, um ein Publikum dermaßen zu erschüttern und zu überwältigen, dass nicht länger von mündigen Bürgern die Rede sein kann, sondern nur mehr von emotional aufgewühlten Marionetten.4 Dass die Seele gerührt ist, passiert schnell einmal, während „das abwägende Urteil der Vernunft“5 Zeit braucht. In der Politik ist das verdächtige Pathos bis heute präsent, in manchen Ländern stärker als in anderen. Einige würden so weit gehen zu behaupten, dass sein Einsatz in der politischen Rhetorik einhergeht mit dem Demokratieverständnis des jeweiligen Redners. Wer erschüttern will, kennt weder Ambivalenz noch Ironie. Daher: je pathetischer, umso absoluter. „Diktatur ist Pathos bis in den Alltag hinein – in der Demokratie bildet das Pathos die Ausnahme“6, schreibt der deutsche Soziologe Wolf Lepenies.
Nicht umsonst reagieren gewisse Gesellschaften mit großem Unbehagen auf Pathos. Deutschland wurde nach der Nazizeit eine Pathosphobie in öffentlichen Reden attestiert. Das offizielle Nachkriegsdeutschland wollte sich auch im Sprechen vom Vorgängerregime abgrenzen. Einen sachlichen, gedämpften, fast schon privaten Sprechstil stellte der Sprachwissenschafter Johannes Schwitalla bei Deutschlands Politikern nach 1945 fest. Es war ein klarer Cut zu den manischen Brüllreden eines Hitlers und Goebbels.7
Bis heute sind die Deutschen empfindlich, was die Lautstärke angeht, sobald öffentlich gesprochen wird. „Beim gemeinsamen Crescendo von Volk und Führungsgestalt wird Deutschland sensibel. Faschismus erkennt es an der Tonlage“8, kommentierte Die Zeit die Reaktionen auf einen Auftritt von Herbert Grönemeyer im Herbst 2019. Der Sänger Grönemeyer richtete damals folgenden Appell an sein Publikum in der Wiener Stadthalle: „Es muss klar sein, auch wenn Politiker schwächeln, und das ist in Österreich nicht anders als in Deutschland, dann liegt es an uns, zu diktieren, wie ’ne Gesellschaft auszusehen hat. Und wer versucht, so ’ne Situation der Unsicherheit zu nutzen für rechtes Geschwafel, für Ausgrenzung, Rassismus und Hetze, der ist fehl am Platze (...).“
Gesagt hat der Popstar das nicht. Er hat es gebrüllt, in klassischer Grönemeyer-Manier. Vielen war das suspekt. Ein Mann, der im Halbdunkel einer Halle Tausende zur Räson rufen will. „Der Tonfall, mit dem Grönemeyer sein Publikum politisch anheizt, macht mir ein wenig Angst. Ich sag‘s ungern, aber er klingt wie ein Redner vor 1945“9, kommentierte der Dramaturg Bernd Stegemann auf Twitter. Und ausgerechnet die AfD-Politikerin Beatrix von Storch verglich den Aufruf mit Nazi-Propaganda und bezeichnete Grönemeyers Auftritt als „furchterregendste, übelste, totalitärste Hassrede“10.
Doch was der eine als Gebrüll wahrnimmt, empfindet die andere als angemessene Lautstärke für das vorgebrachte Argument. Für die einen mögen die Reden Martin Luther Kings inspirierend sein. Für die anderen wirken sie rührselig. Für die einen ist die Aussage des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz, nachdem ihm das Parlament das Misstrauen ausgesprochen hat – „Das Parlament hat abgestimmt, entscheiden wird das Volk“ –, ein erhabener Moment des Widerstands eines geschassten Staatsmannes, für die anderen ein manipulativer Versuch, der mit antidemokratischer 20er-Jahre-Rhetorik nach Emotionen beim Publikum heischt.
Pathos ist relativ. „Was als pathetisch erlebt und bewertet wird, hängt wesentlich von der gegebenen Sprechsituation und den Erwartungen der Zuhörer ab“11, schreibt die Salzburger Linguistin Beatrix Schönherr. Ob ein Sprechstil etwa als pathetisch wahrgenommen wird, hänge nicht nur von der Lautstärke ab oder der Akzentuierung der Worte, der Dehnung der Vokale, den Pausen zwischen den Sätzen, sondern auch von der Emotionalität in der Stimme, der Mimik, den Gesten. Und vom Kontext. Pathos beansprucht für seine Wirkung viele Ebenen. Dazu gehört auch, wer spricht und von wem es gehört wird. Und nicht zuletzt die Bühne, auf der es präsentiert wird.
Eine Frage der Lautstärke
Sesilia Al-Mousli braucht starke Nerven für ihren Job. Acht Stunden am Tag, fünf Tage die Woche tut sie nichts anderes, als das Pathos anderer aufzuspüren und zu deuten. Sechs Monate braucht sie, um es richtig einzuordnen. Stammt das Pathos aus den Tiefen eines verletzten Ichs? Oder ist es nur ein theatralisches Brimborium als Strafe für ein vernachlässigtes Ego?
„Erst nach einem halben Jahr weiß ich, woran ich bin“, sagt sie. Pathos ist nichts für Amateure. Da müssen schon Profis ran. Und Sesilia Al-Mousli ist ein Profi. Die 27-Jährige ist Kindergartenpädagogin. Seit fünf Jahren kümmert sie sich um 21 Mädchen und Buben in einem Kindergarten in Wien, Simmering. Zwischen einem und sechs Jahren sind die Kinder alt.
Der Kindergarten ist für viele der erste Kontakt mit einer Gesellschaft, die ihnen einiges abverlangt. Zum ersten Mal müssen die Kinder funktionieren. Sie müssen Regeln befolgen, die nicht auf ihre Befindlichkeiten abgestimmt sind, sondern auf das vermeintliche Wohl vieler – und die Funktionstüchtigkeit eines Betriebes. Ein harter Einstieg in die große Welt.
Am Anfang wird viel geweint. „Am Beginn gehe ich auf jede Emotion ein, die ich sehe“, sagt Al-Mousli. Besser einmal zu viel nachfragen als zu wenig. Bis sie ein Kind kennengelernt hat, will sie genau wissen, wie schlimm das Aua tatsächlich ist und wie schnell es sich wieder vergessen lässt, wenn sie die pinke glitzernde Knetmasse in unmittelbare Reichweite hält.
In dieser Zeit stellt Al-Mousli auch fest, inwieweit die fest zusammengedrückten Augen Ausdruck eines kleinen persönlichen Dramas sind oder nur als Mittel zum Zweck eingesetzt werden.
Es gibt die einen, die sich ganz bewusst mit hängenden Schultern in die Mitte des Raumes stellen, den Mund verziehen und erst dann zu weinen beginnen, sobald sie den Augenkontakt mit ihr und ihren Kolleginnen hergestellt haben, um die Pädagoginnen dann zu nötigen, für sie Partei zu ergreifen, weil ihnen ein anderes Kind das Spielzeug weggenommen hat. So kennen sie es von zu Hause, wenn sie sich gegenüber ihren Geschwistern behaupten müssen und nur mit Tränen und Geschrei und der damit einhergehenden elterlichen Intervention zu ihrem Recht gelangen.
Und dann gibt es die anderen, die in regelmäßigen Abständen mit voller Wucht gegen Waschbecken und Tischkanten knallen, wieder aufstehen und weiterrennen, als wäre nichts gewesen, weil ihnen zu Hause auch keiner bei jedem Hinfallen die unsichtbaren Flecken heil pustet.
„Die Kinder kriegen viel von zu Hause mit, was sie dann bei uns schnell ablegen“, sagt Al-Mousli. „Ablegen müssen“, schickt sie hinterher. Bei 21 Kindern und zwei Erwachsenen sind die Rahmenbedingungen einfach andere,