Der Ring des Kardinals. Manuel Ortega
dem stark ergrauten Vollbart ab. Das Haupt Henochs bedeckte ein schwarzes Sammetkäppchen, war dem Manne das Aussehen eines mittelalterlichen Gelehrten und Hexenmeisters gab.
„Nun, mein Herzchen, mein Goldtäubchen, sitzest Du schon wieder da und fängst Grillen? So versonnen ist mein schöner Engel, mein Silberpüppchen? Und blass sieht mein Täubchen aus? Du wolltest in den Dom gehen, ja, ja, ich weiss es, ich weiss überhaupt alles. Aber was willst Du da eigentlich, mein Kind, sag’ an, was willst Du eigentlich dort unter den vielen Menschen? — Puh, diese schreckliche Luft in der Kirche.... Ich wette gleich eine Goldunze, Du wirst ohnmächtig werden von dem vielen Weihrauch, und Taschendiebe werden Dir Deine Börse stehlen, Du wirst wieder in das Gedränge hineingestossen werden wie damals bei der Fronleichnamsprozession, Du weisst ja, mein Goldmädel; Mica, mein holdes Röslein, bleibe doch lieber zu Haus. Sieh — was ich da für Dich habe —“ der Jude öffnete in diesem Augenblick jenes Schächtelchen, das er bis dahin in seiner Hand verborgen gehalten hatte. Darin lag in rosa Watte eingebettet eine kleine, ausserordentlich kunstvoll und zierlich gearbeitete venezianische Brosche. „Das da bekommt mein Liebling, wenn er seinem alten Vater den Gefallen tut und heute nicht in den Dom geht — ja, das bekommst Du, Micaëlita ...“
Das Mädchen stutzte, und voll heimlichem Verlangen richtete sie jetzt den Blick ihrer dunklen Augen auf das entzückende Schmuckstück, welches, leicht in Watte eingehüllt, ihr in verführerischem Glanze entgegenleuchtete.
„Das soll mir gehören?“ fragte sie schüchtern.
„Jawohl, das soll meinem Herzchen gehören, ganz allein, wenn es heute im Hause bleibt.“
Der schlaue Henoch kannte seiner Pflegetochter Vorliebe für jede Art von Schmuck wie auch die für schöne Kleider. Und seiner Ansicht nach gehörten auch zu einem schönen Weibe schöne Sachen. Die Erfahrung hatte ihn dies oft genug gelehrt.
„Wenn Du es denn, lieber Vater, durchaus willst und Dir damit ein grosser Gefallen geschieht, dann kann ich ja ...“
Der Antiquar liess Micaëla gar nicht ausreden, sondern unterbrach sie sogleich mitten im Satze durch die Worte:
„Du sagst es soeben ja selber, mein gutes Kind, dass Du mir damit einen Gefallen erweist, und zwar noch aus einem ganz besonderen Grunde. Es kommt nämlich heute ein Mann, ein Elektrotechniker von der Firma Sarasate & Co. zu uns, um hier im Zimmer die Wände auszumessen. Wie Du weisst, will ich auch hier oben elektrisches Licht legen lassen, nachdem es seit einem Jahre schon unten im Laden brennt. Das ist billiger und praktischer als die vielen Kerzen und die alten Oelfunzeln, zumal jetzt, wo durch den schrecklichen Krieg da draussen alles anfängt teurer zu werden. Also nicht wahr, meine Mica bleibt heute zu Haus und passt gut auf, dass mir der Mann, der die Wände ausmessen soll, nichts wegträgt, denn solche Leute haben oft tiefe Taschen.“
„Aber, Vater, wie kannst Du nur immer gleich so misstrauisch gegen jeden Menschen sein! Du tust gerade, als ob jeder Mann ein Betrüger und Spitzbube sein müsste. Schön, ich bleibe hier und, sei unbesorgt, ich werde gut aufpassen.“
„Mein gutes Kind, hab’ tausend Dank, so ist es recht von Dir! Hier hast Du Deine Brosche, stecke sie Dir nur gleich einmal vor dem Spiegel an und sieh zu, welche von Deinen Mantillen am besten dazu passen wird. Ich gehe jetzt nach hinten in das Kontor, um dort mit Chulpo an dem Katalog zu arbeiten, der in drei Wochen verschickt werden soll. Wenn der Elektrotechniker kommt, so bist Du wohl so gut und rufst mich. Die Mutter kommt erst am späten Nachmittag zurück, da sie einen Besuch bei der Base machen wollte.“
Es mochten etwa knapp anderthalb Stunden verstrichen sein; Micaëla langweilte sich zusehends. Während ihr Pflegevater im Kontor an seinem Schreibpult stand und emsig arbeitete, hatte sie inzwischen ihre sämtlichen Kopf- und Umschlagetücher aus ihrer Truhe hervorgeholt, um deren Wirkung in der Farbe auf die neue Brosche auszuproben. Dann nahm sie ein Buch zur Hand und begann zerstreut zu lesen, denn fortwährend schweiften ihre Gedanken hinweg und wunderten aus ihrem Stübchen hinüber über das weite Meer nach Perus Hauptstadt, nach Lima, wo sie den fernen Geliebten wusste, ihren armen, unglücklichen Alvaro. Würde sie ihn wohl jemals wiedersehen? — — —
Micaëla horcht auf.
Es kommt jemand die Treppe, die unten vom Laden in den ersten Stock hinaufführt, herauf. Deutlich hört sie die Schritte auf dem schmalen Gang. Dann ruft eine Stimme — es ist die des ersten Gehilfen, der unten im Laden zum Bedienen da ist — hinauf:
„Gehen Sie nur den Gang vor und klopfen Sie dann an der dritten Tür links, dort wird man Ihnen Bescheid geben!“
„Aha“ — denkt sich das Mädchen — „das wird der Arbeiter von der Firma Sarasate & Co. sein, der hier oben Mass nehmen soll. Sie erhebt sich von ihrem Stuhl am Fenster und geht nach der Tür zu. In demselben Augenblick klopft es draussen.
Das Mädchen öffnet, vor ihr steht — Alvaro....
Kein Zweifel — er ist es. Seine Augen, das kurze, kraus gelockte Haar, seine ganze Haltung und seine Gesichtszüge, es sind die ihres Geliebten, an den sie soeben noch gedacht hat und der nun mit einem Male leibhaftig vor ihr steht und diese geschickte Verkleidung gewählt hat, um sich unbemerkt in der Stadt aufzuhalten und sich ihr zu nahen.
„Alvaro — —!“ schreit sie auf. Schmerz und Sehnsucht, Schreck und Verlangen sind in diesem leidenschaftlichen Ruf vereint.
Und bereits im nächsten Augenblick liegt Micaëla in den Armen des Mannes, der sie umfängt und rasch an sich zieht.
Sie schliesst ihre Augen und erwartet seine Küsse....
Doch jenen Ruf des Mädchens vernahm auch das Ohr des alten Henoch, der schnell seine Feder hingeworfen hat und durch die Tür hindurch den Gang hinunter nach Micaëlas Zimmer jagt. Er sieht deren Tür offen und erblickt gerade, wie ein fremder Mann sein Pflegekind in seinen Armen hält.
Mit einem tigerähnlichen Sprung fährt der Jude auf das Paar los und packt den Mann beim Kragen.
„Zurück, Du Spitzbube! Was fällt Dir ein, meine Tochter zu küssen? I, Du Diebsgesicht, Du Galgenstrick, Du hast Dich hier eingeschlichen, na warte, ich dreh’ Dir den Hals um!“
Der Fremde macht eine rasche Bewegung und kommt dem Antiquar unmittelbar gegenüber zu stehen, so dass ihm dieser voll ins Gesicht sehen kann.
„Was,“ schreit Henoch, „Sie hier, Herr Alvaro! Nun, das nenne ich wirklich Kavaliersart, das muss ich sagen! Sie schleichen sich hier in der Maske eines Arbeiters in mein Haus ein, um mein Kind zu überrumpeln. Sie wollten wohl Ihren toten Onkel beerben, deswegen sind Sie scheinbar geradeswegs von Amerika herübergekommen? Das ist ja fein, Herr Leutnant, oder wie Sie sich jetzt nennen mögen! Nun ist es aber genug — jetzt hinaus mit Ihnen! Für Schuldenmacher und Mädchenverführer gibt es in meinem Hause keinen Platz! Hinaus! sage ich nochmals.“
Vater Henoch sah ehrfurchtgebietend in seinem fast biblischen Zorn aus, mit dem er seine Hausehre verteidigte. In seiner Wut hatte er einen Schemel ergriffen und drang damit auf den Fremden ein.
Dieser war mit einer schnellen Bewegung zur Seite getreten, so dass er unmittelbar an der Schwelle der noch halboffenen Tür stand, seine Augen blitzten und mit finster gerunzelter Stirn blickte er auf den alten Mann, der Miene machte, ihn jetzt tätlich anzugreifen.
Micaëla stand mit todblassem Gesichte und vor Aufregung zitternd im Hintergrunde des Zimmers und war keines Wortes fähig. Als sie sah, wie ihr Pflegevater sich auf den Fremden stürzen wollte, schrie sie: „Tue ihm nichts, Vater, es ist ja Alvaro. Er liebt mich, er wollte nur ....“
Da erscholl ein hartes, kurzes Auflachen aus dem Munde des Arbeiters, dessen rechte Hand blitzschnell nach seiner Hosentasche fuhr.
„Haha — schönes Kind, ich danke Euch, dass Ihr für mich Partei ergreift, das ist recht von Euch. Doch Ihr irrt, ich bin kein Alvaro; na jedenfalls auf Wiedersehen!“
„Hund, infamer!“ brüllte jetzt Henoch und drang abermals mit dem Schemel auf den Fremden ein.
„Zurück!“ schrie dieser, und im nächsten Augenblick starrte dem Juden der Lauf eines Revolvers