Literaturstreit und Bocksgesang. Jürgen Brokoff
ob es Gesellschaftskritik ohne zugrunde liegende Gesellschaftstheorie geben kann, und dargelegt, dass die damit zur Diskussion stehende »Verbindung von Theorie und Kritik offen für Zweifel« ist.[38] Karl Heinz Bohrer, der zu Walzers Thesen Stellung nimmt, ist entschieden der Ansicht, dass Gesellschaftskritik ohne Gesellschaftstheorie nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert ist. Unter dem Stichwort einer »Phänomenologie der Einzelnen« führt er die »gesellschaftskritischen Möglichkeiten des dichterischen Blicks« ins Feld.[39] Die Formel vom »dichterischen Blick« klingt zunächst vage und ein wenig pathetisch, sie fußt aber auf der durchaus nüchternen Einsicht, dass durch literarische Schreibweisen andere Phänomene in den Blick geraten als durch eine »gesellschaftstheoretisch orientierte soziale Erzählung«, die beispielsweise Erfolgreiches über die funktionierenden Institutionen der »deutschen Bundesrepublik« nach 1945 zu berichten weiß.[40] Bohrer zufolge sind es insbesondere die scheinbar entlegenen, leicht zu übersehenden Nuancen, die in literarischen, dichterischen Texten zu ihrem Recht kommen. Durch die Freilegung dieser Details verbinde sich in der Literatur auf spezifische Weise eine gesellschaftskritische Erkenntnisfähigkeit mit moralischer Wirkung:
Je mehr die Schriftsteller – auch die der Vergangenheit – sich nach philosophischen Universalien ausrichteten, umso weniger erkannten sie wirklich. Je mehr sie die Nuance des noch Verborgenen, dem ein Wort fehlte, hervorholten, umso stärker war auch die moralische Wirkung.[41]
Man muss nicht so weit gehen und im Anschluss an Bohrer »auf den Dichter als Paradigma einer künftigen Gesellschaftskritik verfallen«,[42] zumal es sich bei den hier behandelten Texten nur in Teilen um literarische Texte im enger gefassten Sinne, stets aber um Texte literarischer Autoren handelt. Diese Texte nehmen aber im hier interessierenden Kontext eine so zentrale Stellung ein, dass es bei aller Berücksichtigung politischer und medialer Aspekte geboten ist, ihre genaue Analyse in den Vordergrund zu stellen.[43] Das ist mit Blick auf die zum Teil sehr polemisch geführten Debatten zu Beginn der neunziger Jahre keineswegs selbstverständlich. Es gilt für Christa Wolfs literarische Erzählung Was bleibt, die im Zentrum des ersten gesamtdeutschen Literaturstreits steht und den Ausgangspunkt der hier in den Blick genommenen Verschiebung bildet. Und es gilt für Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang, an dessen Überlegungen zur Frage, »rechts zu sein«,[44] seinerzeit viele Anstoß genommen haben – und dies vor dem Hintergrund eines tiefgreifenden Wandels der politischen Diskussionskultur in Deutschland auch heute noch tun.
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