Die Heimat. Paul Keller
Was denn? Was denn zum Beispiel? Möcht’ ich wissen. Was denn, Berger?“
Der lehnte sich gegen das Schanksims, kniff seine Äuglein ein wenig zusammen und sagte ganz ruhig: „Ich werd’ dir mal was sagen, Schräger. Siehste, es könnte einer auf den Gedanken kommen, es wär’ eigentlich ganz hübsch, wenn die beiden Buchenhöfe wieder zusammenkämen. – Lass mich reden, Schräger, reg dich nich uff! Also, wenn alles wieder eine Herrschaft wär’! Das könnte schon einer denken. Nich? Na, aber ’s wär’ ’n sehr dummer Gedanke, Schräger; denn die Raschdorfs gehen da drüben nich ’raus!“
„Ich weiss nich, was du hast, Berger. Ich denk’ doch im Traume nich an so was. Der Raschdorf is mein Freund.“
„Is dein Freund, Schräger. Das ist hübsch von dir! Und weil du nu deinen Freund mit den Aktien so in die Tinte geritten hast ...“
„Berger, das lass ich mir nich gefallen!“
„Weil du ihn so in die Tinte ’reingeritten hast, sag’ ich, wirste ihn wohl jetzt wieder ’rausreiten müssen.“
„Das is ’ne Frechheit von dir, Berger! Wie kommste denn dazu? Das geht dich doch gar nischt an!“
„Geht mich gar nischt an, Schräger, da haste recht! Aber gerade das, was mich nischt angeht, um das kümmer ich mich. Schräger, ich will dir mal in aller Gemütlichkeit was sagen: Wenn du etwa am Raschdorf schuftig handelst, da mach ich dich schlecht im ganzen Vaterlande und im ganzen Waldenburger Kreise. Verstehste? Ich verkauf dich als Lumpen in jedem Hause.“
„Nu is aber genug, Berger! Das sagste mir in meinem Hause? Ich verklag dich, und wenn du noch ’n einziges Wort sagst, dann ...“
„Da schmeisste mich ’raus. Wachste recht, Schräger, tät’ ich auch machen! Aber ich geh’ schon alleine. Meine Meinung weisste! Leb gesund, Schräger!“
Berger hörte nur noch, dass ihm der Wirt etwas nachzischelte, aber er kümmerte sich nicht darum. Aus der sauersüss riechenden Wirtsstube trat er wieder hinaus auf die sonnenbeglänzte, freie Strasse. Ein kleiner Planwagen stand da, vor den ein grosser schwarz- und weisshaariger Hund gespannt war. Der schielte seinen Herrn mit einem verliebten Seitenblick an und klopfte in drei gleichmässigen Zwischenräumen mit seinem mächtigen Schweife an die Wagendeichsel. Der Lumpenmann stutzte und betrachtete aufmerksam sein Gefährt, in dem sich leise etwas regte.
„Haste etwa a Raschdorf Heinrich gesehen, Pluto?“
Der Hund bellte freudig.
„Oder vielleicht gar a Schaffer-Hannes?“
Der Hund bellte noch lauter.
„Haste sie wirklich gesehen, Pluto? Möcht’ ich wissen, wo sie stecken.“
Der Hund bellte wie toll und zerrte und riss an seinem Geschirr. Der Lumpenmann bückte sich und machte ihn frei.
„Na, da such, Pluto, da such!“
Ein Satz, und der mächtige Hund war unter der Plane verschwunden. Ein Zeter- und Mordgeschrei erhob sich in dem kleinen Wagen, dazwischen ertönte ein ganz rasendes Hundegebell. Der Lumpenmann stand da und lachte, und die Tränen liefen ihm über das runzlige, bestaubte Gesicht. Ein Paar Gamaschen wurden auf der Deichsel sichtbar, in denen steckten zwei Quartanerfüsse, und nach und nach kam der ganze junge Akademiker zum Vorschein. Unterdessen war ein wüstes Gebrülle und Gebelle im Wagen.
„Du bist verrückt, Pluto! Mein Gesicht, au, mein Gesicht!“
Der kleine Wagen wankte und bebte von dem gewaltigen Kampfe, der sich in ihm abspielte, und dann wurde in seiner dunklen Össnung ein animalischer Knäuel sichtbar, und rechts von der Deichsel fiel ein Hund auf die Strasse, und links von der Deichsel ein Junge.
Hannes erhob sich mit zerkratztem Gesicht.
„Wir kommen vom Begräbnis“, sagte er kläglich und betrachtete zerknirscht den demolierten Paradehut seines Vaters. „Da macht man sich ’n kleinen Spass und kriecht mal in den Lumpenwagen, und gleich hetzt a mit Hunden. Was bloss mein Vater zu seinem Zylinder sagen wird! Pfui, Mathias, das werd’ ich mir merken! Das ist ruppig von Ihn’n!“
Der Lumpenmann lachte, dass er sich schüttelte.
„Ihr Halunken! Gelt, das wär’ a Spass gewesen, wenn euch der Mathias Berger ins Dorf gezogen hätte! Na, heul nich etwa, Hannes! Sagen wird dein Vater zum kaputten Zylinder nischt; a sagt ja nie was; höchstens durchhauen wird a dich.“
In diesen Worten vermochte Hannes einen erheblichen Trost nicht zu erblicken, und so versprach ihm Mathias Berger einen neuen Zylinderhut. Er habe zwei Stück. Einer rühre von seiner Hochzeit her, den anderen habe er geerbt. Der Hannes solle sich den schönsten gleich abholen, ehe der Vater vom Felde heimkehre und gewahr werde, was mit seiner „Trauertonne“ passiert sei.
Da war die Not des Buben behoben. Und nachdem Hannes durch einige kritische Fragen, die das Erbstück betrafen, die tröstliche Versicherung erhalten hatte, dass die beiden Hüte Bergers wirklich Prachtexemplare ihrer Art seien, spannte er sich selbst neben den von ihm sonst heissgeliebten Pluto und zog mit ihm das Wägelchen die Strasse hinab dem Dorfe zu.
Mathias Berger und Heinrich Raschdorf folgten in einiger Entfernung. Es war Abend geworden. Einzelne Schnitter kamen heim vom Felde. Irgendwo draussen waren die ersten Halme gefallen. Wie die Leute am Anfang der Ernte so stolz daherschreiten! In ihren Muskeln ist aufgespeicherte Kraft, und die Gewissheit wohnt in ihren Herzen, dass ihr Körper kräftig und tüchtig ist. Diese Menschen sind die glücklichsten Leute der Erde. Sicher aber die leidlosesten, die ruhigsten, die ungeängstigtsten. Was ihnen fehlt, wissen sie nicht, und was sie haben, steht über aller Wertung nach Geld. Die anderen haben viel, was Plunder ist, und das Schlimmere: sie wissen, was ihnen fehlt, grübeln darüber nach und sehnen sich müde. Es ist kein Wunder, dass ein wortkarger Stolz im Bauern wohnt. Lächelt der Städter über den Landmann, wenn er ihn unbeholfen über seine Strassen trotten sieht, der Bauer lacht unendlich verächtlicher über den Städter, wenn der neben seinen Erdfurchen und strotzenden Saaten so vorsichtig und blass und müde daherwandelt.
Mathias Berger sah seinen jungen Begleiter an, der einen grauen Anzug mit kurzen Hosen, einen weissen Strohhut und Gamaschen trug. „Eigentlich siehst du dich komisch an hier auf der Dorfstrasse“, sagte er.
„Ja, Mathias, wissen Sie, und ich wär’ auch viel lieber wieder zu Hause.“
„Gefällt dir’s nicht auf der Schule in Breslau?“
„O ja, wenn man der Siebente ist von achtunddreissig, das ist schon ganz anständig. Im Französischen hab’ ich bloss ‚genügend‘, sonst steh’ ich ganz gut. Aber wissen Sie, Mathias, das Schlimme ist, dass mir immer so bange ist.“
„Du hast wohl manchmal das Heimweh, Heinrich?“
Der Knabe mässigte seine Stimme.
„Ja, aber das sag’ ich bloss Ihnen, Mathias! Sonst müsst’ ich mich ja zu sehr schämen. Und meine Kameraden würden sagen, ich sei eine Memme, und ich kriegte Klassenkeile. Aber mir ist halt immer so bange. Ich kann nicht dafür, Überhaupt nach den Ferien! Einmal hab’ ich nach den Ferien meine Wochentagsschuhe vier Wochen lang nicht angehabt. Ich mochte sie nicht abbürsten, weil – weil Boden von zu Hause dran war.“
Der Lumpenmann wandte sich ab und sagte mit verstellter, etwas heiserer Stimme:
„Das wirste schon noch überwinden lernen, Heinrich! Oder willste nicht gern Doktor werden oder Pfarrer oder sowas?“
„Nein, Mathias, ich will nicht! Ich will wieder zu Hause sein, wo ihr alle seid.“
„Willste denn Bauer werden, Heinrich?“
„Ja. Sehn Sie mal, Mathias, es wär’ doch schade um unser schönes Gut. Sehn Sie, hier gerade an dem wilden Kirschbaum kann man unsere ganzen Felder übersehen. Das sind doch viel! Nicht, Mathias? Eigentlich sind wir doch reich. Aber das sag’ ich gar nicht in Breslau. Ich denk’ bloss immer dran, dass wir so ein schönes Gut haben.“
Der