Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
bei jedem, die Heiterkeit und Grazie, mit der der Junker Ernst seine Geschichten vortrug, bezwang das widerwilligste Ohr; kein Unterschied zwischen Alt und Jung, der mit Geschäften beschwerte Amtsträger mußte ebenso stillhalten und lauschen wie der einfache Handwerker, die finstersten Züge verschönten sich durch ein verwundert-sinnendes Lächeln. Die Gespenstergeschichte da, was war sie schließlich, ein ergötzliches Nichts, und als ob sich der Erzähler hätte heimlich lustig machen wollen über das Nichts, hätte zeigen wollen, wie aus dem Nichts ein Etwas wird, wenn man den Schicksalsbogen drüber auswölbt, machte er es noch zum Inbild des Geschehens. Aber wie alles schwebte und sich bewegte, ohne Gewicht und ohne Greifbarkeit wie Blumen in einem klaren Spiegel; wie es aus der Tiefe kam, in der das Ängsten und Weben des Volkes war, so daß es, gesprochen und zur Figur gestaltet, zum elementhaften Wesen wurde, dem Gang und Rhythmus der Sterne ähnlich, notwendig der Seele und entlegen dem Geist. Er hatte es in einem Augenblick erfunden; als er den Schneidermeister so besorgt und wichtig an sich herumhantieren sah, war alles schon Erscheinung, und er hätte ohne das geringste Nachdenken gleich zehn andre Geschichten dranhängen können, die freilich noch nicht Erscheinung waren, bloß Schein. Aber darum mußte er sich nicht plagen, da war eine Kraft in ihm, der er sich nur anzuvertrauen brauchte, ein Hinströmen, und er mußte dem Strom gehorsam sein, oder eine Last, deren er ledig werden mußte, wenn er nicht drunter ersticken wollte. So kam es, daß er auch hier alsbald, wo er ging und stand, seine Zuhörer hatte: in der Antekamera des Bischofs, unterm Torweg des alten Palastes, auf dem Platz vorm Dom, an der Mainbrücke, in einem abseitigen Gäßchen, im Häuserwinkel bei einer Schmiede. Da aber der Oheim Bischof seinem unzähmbaren Freizügigkeitsdrang mit jedem Tag drückendere Schranken setzte, obschon in einer feigen Art, so daß das Verbot anfangs immer vom Hauptmann der Schloßwache ausging, der ihn dann auch überwachen ließ, entwischte er oft ungesehen und zu abendlichen Stunden, bestellte sich auch Kinder und junge Menschen in den Hof, in die Flure des Bischofshauses, und einer seiner häufigen Gänge war, nachdem er sich mit Peter Mayer verständigt hatte, zu den Alumnen im andern Trakt; hiezu brauchte er das Haus gar nicht zu verlassen. Als die Lehrer und Aufseher dahinterkamen, verwehrten sie ihm den Eintritt; doch sei es, daß sie sich gegen den Günstling und Verwandten des Bischofs eines nachhaltigen Widerstandes entäußerten, sei es, wofür bessere Gründe sprachen, daß des Junkers liebenswerte Schmiegsamkeit und leuchtende Offenheit auch sie in Bann schlug, sie drückten ein Auge zu und stellten sich unwissend, wenn er nach Anbruch der Dunkelheit in die Säle schlich und zwanzig, dreißig, vierzig von den Zöglingen um sich versammelte wie ein Priester, der zum Gottesdienst ruft; einige von den Präzeptoren mischten sich selber unter die ungeduldige Schar und bemühten sich nur, möglichst ungesehen zu bleiben. Die Alumnen, hagere Jünglinge mit traurigmüden, -hohlen Augen, die Gesichter fahl und schlaff und in allem Tun lautlos, wie es die Hoffnungslosen sind, hatten sich schon den ganzen Tag gefreut und ließen sich gern forttragen aus ihrer kalten Welt, in der die geistige und sinnliche Nahrung so kärglich war wie die leibliche. Das reizte den Junker Ernst sehr, diese Müden zu bewegen, die Bedrückten zu erheben, ihrer innern Finsternis unerwartete Helligkeit zu spenden. Da wurden seine Erzählungen am übermütigsten, und Ausgelassenheit verband sich oft mit unbewußtem Tiefsinn wie in der Geschichte von dem Mann, dessen größter Kummer war, daß die Zeit so schnell verging, und der überall die Uhren stillstehn machte; wo er einer Uhr habhaft wurde, brachte er sie zum Stehen, auch auf die Türme stieg er und zerstörte das Räderwerk, und wie er einmal eine einzige Stunde brauchte, um eine gute Tat zu vollbringen, fehlte ihm die, denn der Tod trat in die Tür, und es war zu allem zu spät. Von derlei Begebenheiten und Erfindungen war er voll; auch versuchte er etwas bei den Alumnen, worauf schon die morgenländische Scheherazade verfallen war, von der er jedoch nie vernommen hatte; er erzählte eine Geschichte nicht zu Ende und spann sie in den nächsten Abend hinüber, manchmal in den zweiten und dritten; an der verwickelsten Stelle aufzuhören und die Erwartung über einen Tag in Atem zu halten, bereitete ihm Genuß, es war wie ein kleiner Betrug an der Phantasie der Menschen und ein Erproben ihrer Gläubigkeit, die er ja dann nicht enttäuschte. Er war durch eine Not drauf gekommen; der Oheim Bischof hatte einen Mönch mit seiner Bewachung betraut, zu allen Stunden, in denen der Bischof selbst durch sein Amt verhindert war, sollte dieser Mönch, ein dummer alter Mann, in der Nähe des Junkers sein; es gelang Ernst, auch den zu betören, und da er neben seiner Einfalt ungemein neugierig war, konnte Ernst nur dadurch sein Schweigen erkaufen, daß er den Faden einer Geschichte immer in dem Augenblick abriß, von dem Bruder Felician, der alles als wirkliches Geschehnis nahm, vor Aufregung das Wasser aus dem offenen zahnlosen Mund lief. Nicht allein dem Bruder Felician ging es so. Nach Verlauf mehrerer Wochen war das ganze Domkapitel über den Junker ins Fieber geraten, Domherren, Pröpste, Kapläne, Dekane, Kapitulare, Laienpriester, Klostergeistliche, alle fing er ein, alle unterlagen der rätselhaften Gabe, und obschon sie Gewalt genug über sich hatten, um sich nicht so stürmisch an ihn anzudrängen wie die Jugend, die oft in ganzen Heerscharen Schloßhof und Domplatz besetzt hielt, nur in der Hoffnung, ihn zu sehen, dünkte es doch den meisten, als ob sie ein leibhaftiges Wunder erlebten, und sie glaubten, dem Bischof zu gefallen, wenn sie den Junker rühmten und ihr Erstaunen laut verkündeten. Dem war aber nicht so. Der Bischof wurde von einer wachsenden Unruhe ergriffen, die allmählich seine Gewohnheiten durchbrach, seine Tageseinteilung umstieß, seine Audienzen, Übungen, Gebete und richterlichen Entscheidungen störte.
XI
In seinem Gehaben wechselten Anfälle grundlosen Zorns mit hinterhältiger Verschlossenheit. Er konnte keine Nacht mehr schlafen. Dem Pater Gropp ging er scheu aus dem Weg, und wenn er das Zimmer betrat, kam etwas Fahriges über den Bischof wie über einen, der böse Heimlichkeiten hat. Einmal, als der Pater schweigend am Tisch saß, mit gesenkten Augen, und der Bischof ärgerlich murmelnd sein Brevier suchte, das er eben noch in der Hand gehalten, brach er plötzlich in die Worte aus: »Ja, ich hab ihm das Kettlein geschenkt, damit Ihrs wißt.« In der Tat hatte er ein paar Stunden zuvor dem Neffen die versprochene goldne Kette um den Hals getan; aber was nötigte ihn, es dem Pater Gropp zu melden, und in so zänkischem Ton? Der Pater schwieg. Manchmal ging der Bischof in der Nacht unstet in seinem Gemach hin und her, zu Zeiten trat er in den finstern Flur und wanderte auf und ab. Dabei geschah es oft, daß er an der Tür des Junkers still hielt, um zu lauschen. Ein undeutbares Lächeln flimmerte über die greisenhaft verfurchten Züge, wenn er von drin den Atem des Schläfers zu vernehmen glaubte. Es schien als könne er den Morgen nicht erwarten und müsse den Knaben aus dem Schlummer und an seine Seite holen. Eines Nachts überwältigte ihn die Ungeduld; er öffnete leis die Tür, da es Vollmondzeit war, erfüllte trotz des bedeckten Himmels ein dämmeriges Schimmern die Stube, er wollte den Knaben ansehen, bloß ansehen, trat unhörbar näher und beugte sich über ihn, um das schöne Gesicht, so fremdartig im Schlaf, besser betrachten zu können. Was war es denn, was in ihm wühlte und brannte; es gibt eine zwischen Himmel und Hölle schwankende Neugier, für die der Schlaf des andern Menschen das Geheimnis der Geheimnisse ist; wem der menschliche Leib nur als Haus der Dämonen gilt, der mag glauben, daß er sie so am sichersten belauschen kann, und wenn er, im Streit mit einem unbekannten süßen Gefühl, den sündigen Schauplatz von ihnen verlassen hofft, ist ihm ein Weg zur Rechtfertigung gebahnt, er darf es dulden, daß sein Herz freudig schlägt. Wie eigen für den Siebzigjährigen: hingezogen werden zu einem Wesen, sich nach dem Wunderbaren sehnen, das in dem Wesen ist, sich ausdenken, wie das Blut in den Adern rauscht, wie die Glieder beschaffen sind, die leuchtende Haut anfassen mögen, sich an das Lächeln erinnern, das die frischen Lippen schwellen macht wie eine Mandel, die man in heiße Milch legt. Da ist Einer und ihm gegenüber die Welt mit ihren Schätzen; der Eine bedeutet mehr als die ganze Welt, an ihm haften Wunsch und Sinn, man könnte weinen, daß man ihn nicht in sich hineinpressen kann, verborgen vor allen Blicken, und ihn tragen wie eine Schwangere ihr Kind. Was man liebt, sollte ungeboren sein, das Geborene entfernt sich; oft war dem Bischof zumut, als müsse er dem schönen schlanken Knaben die Kehle zudrücken, bloß damit er ihn in den Arm nehmen, ihn gewinnen, ihn haben könne; der Tote hält still. Nacht für Nacht wiederholte sich das nämliche; den Schlummernden in seinem Schlaf zu belauschen wurde zur Leidenschaft des Bischofs, stundenlang vorher zitterte er schon wie vor einer Handlung, von der nicht gewiß war, ob sie Laster und Ausschweifung war oder demütiger Dienst. Alle andern Leute trachteten danach,