Die Welt, die meine war. Ketil Bjornstad
sind der Mittelpunkt des Universums. Sie sind Sonnen und Planeten auf einmal. Wir sind wie Satelliten oder bleiche Monde um seinen Tisch verteilt. Seine schwarzen Locken. Die Brille, die die Augen so groß macht. Die muntere Stimme, die bis nach oben in Randklev zu hören ist. In seiner Welt sind wir alle eine Kulisse. Aber eine wichtige Kulisse. Und weil wir alle ihn lieben, aus verschiedenen und ab und zu unbegreiflichen Gründen, wollen wir, dass er sitzenbleibt, auch mit dieser Liv-Ullmann-Gestalt, die so still und gehorsam neben ihm sitzt. Wir wollen, dass er Abel ist, dass er noch immer auf dem Motorrad in unser Leben kommt, mit Leah auf dem Gepäckträger. Und wenn es doch nicht passiert oder in der Zukunft nicht mehr passieren kann, müssen wir mit dieser Kristina leben, versuchen, sie zu verstehen und sie zu mögen. Sie sagt kein böses Wort. Sie ist ein Engel. Ein schöner schwedischer Engel. Aber sie hat einen Stachelbeerbusch zwischen den Beinen, und nur für den interessiert sich Abel. Was soll ich denken oder meinen.
Wo ich es doch nicht einmal wage, daran zu denken, wie Mutter oder Tante Svanhild da unten aussehen. Es gibt einzelne Gedanken. Aber damit steht noch nicht fest, dass man sie unbedingt denken muss. Sie können in den Bibliotheksregalen stehen. Dort sein, bis zur passenden Gelegenheit. Und das findet Vater wichtig, weil er doch die Bibliothekshochschule besucht hat. Er wirft keine Bücher weg, zu Mutters großer Verzweiflung. Deshalb habe ich Sagan im Bücherregal gefunden. Da gehören Bücher hin, findet Vater. Reisegefährten auf dem Weg durch das Leben. Abel zog ein Buch heraus, und da stand Stachelbeerbusch und Die schwedische Sünde. Aber jetzt, an diesem Tag im Mai, erzählt er von einem weiteren Film, den er gesehen hat, Antonionis La notte. Er erzählt von Mastroianni und Moreau, darüber, wie dieses unglückliche Ehepaar einen sterbenden Freund im Krankenhaus besucht. Der fehlende Kontakt zwischen den beiden, als sie wieder draußen im Leben sind, vor dem Krankenzimmer. Aber der Sterbende scheint auch die sterbende Beziehung zu symbolisieren. Sie, die in den Teil der Stadt zurück will, in dem sie als Jungverheiratete gewohnt haben. Er, der nicht begreift, was sie empfindet oder worüber sie mit ihm zu sprechen versucht. Wie immer fängt Abel an zu lachen, als es wirklich traurig wird. »Eine total zerstörte Ehe!«, sagt er. »Sie haben ihre Beziehung verfaulen lassen! Sie sind zu ihrem eigenen Kompost geworden!«
»Das ist nicht komisch«, sagt Mutter mit scharfer Stimme.
»Doch«, sagt Abel und zieht Kristina noch fester an sich. »Und das Komischste ist, als Lidia, also Moreau, einen Liebesbrief hervorzieht und Giovanni zeigt. Ja, sie liest ihm den Brief vor. Einen phantastischen Brief, so einen, wie alle ihn gern einmal im Leben bekommen würden. Aber er verbindet nichts damit. Deshalb fragt er, wer ihr das geschrieben hat. Und sie sieht ihn an und sagt: »Das warst du!«
Abel kippt vor Lachen fast von der Gartenbank. Kristina fühlt sich sichtlich unwohl in ihrer Haut.
»Ist das nicht tragisch? Ist das nicht komisch?«, heult er.
Mutter und Vater geben keine Antwort. Warum können sie das nicht sagen, denke ich, während ich die Lippen zusammenkneife. Dass das überhaupt nicht komisch ist. Dass ich jede Nacht Albträume davon habe. Dass es bei Mutter und Vater genauso aussieht. Dass sie vergessen werden, warum sie zusammen sind, warum sie geheiratet haben, warum sie einander lieben. Dass alles am Ende tragisch wird. Wie in der Oper.
Nun versinkt Abel für einige Sekunden in Gedanken. Als ob ihm klargeworden ist, dass er nicht ganz das erhoffte Publikum gefunden hat. Etwas Wachsames, tief dort drinnen: Freund oder Feind?
Wer ist er? Woher kommt er? Ich weiß nur, dass er Jude ist. Aber was bedeutet es, Jude zu sein? Isaac Stern ist Jude. Einstein war Jude. Abel ohne Land. Er reist die ganze Zeit auf dem Weg zu etwas oder auf dem Weg fort von etwas.
»Heute Nacht wird Eichmann gehängt«, sagt er plötzlich und gibt dabei Kristina ein Zeichen zum Aufbruch.
»Wie denkst du darüber, Abel?«, fragt Vater vorsichtig. Ich sehe sein kluges Gesicht an, versuche, etwas von ihm zu lernen. Von seiner langsamen, aufmerksamen Art, in der er sich Menschen nähert. Abels Miene verändert sich.
»Du weißt, was ich meine, Per«, sagt er. »Auch wenn ich Jude bin, will ich nicht, dass Juden so morden, wie Juden ermordet worden sind. Aber Eichmann …«
Er sitzt plötzlich mit krummem Rücken da und starrt vor sich hin. Kristina legt ihm den Arm um die Schultern.
Nicht weinen, denke ich. Um Gottes willen. Nicht weinen. Dann muss ich nur an Mutter denken, wenn sie sich mit Vater streitet. Ich will hier keine Tränen.
Aber Abel weint nicht. »Es ist alles so sinnlos«, sagt er leise.
Sechs Stunden später wird Eichmann hingerichtet.
»Lang lebe Deutschland«, sagt er, als er unter dem Galgen steht. »Lang lebe Argentinien. Ich musste der Flagge des Krieges und meines Landes gehorchen. Ich bin bereit.«
Die Luken unter ihm fallen zur Seite. Der Tod öffnet sich. Eichmann ist nicht mehr da.
38
In diesem Sommer können wir uns keine Hütte leisten. Stattdessen besuchen wir Oma in Fredrikstad und die anderen Großeltern in Sarpsborg. Chrutschtschow besucht Boris Gleb, die kleine russische Enklave bei Skoltfossen, auf dem Westufer des Pasvikelva, an der Grenze zu Finnmark. Triphon von Petsamo ließ im sechzehnten Jahrhundert die russisch-orthodoxe Kirche errichten zur Erinnerung an die Heiligen Boris und Gleb, die 1015 den Märtyrertod erlitten und von ihrem Bruder Swatopolk erdolcht wurden. Swatopolks Vater, König Wladimir, hatte ihn zum Prinzen von Kiew ernannt. Aber Swatopolk wollte auch die Gebiete, die seinen Brüdern zugesprochen worden waren, und er schickte Leute, um die beiden zu töten. Zuerst gingen sie zu Boris nach Alta. Sie fanden ihn auf Knien vor einer Christus-Ikone, er sang fromme Lieder und bat Gott, Swatopolk nicht zu hart zu bestrafen. Widerstandslos legte er sich auf eine Bank und wurde erstochen. Danach schickte Swatopolk einen Boten zu Gleb und ließ ausrichten, der Vater sei erkrankt und wolle seinen Sohn sehen. Gleb machte sich auf den Weg, erfuhr jedoch unterwegs, dass der Vater schon tot war und dass Swatopolks Leute Boris ermordet hatten. Dennoch setzte er die lange Reise mit dem Schiff fort, bis er von Swatopolks Leuten entdeckt wurde. Aber es war Glebs Koch, der ihn dann erstach. Der Körper des Märtyrers wurde ins Wasser geworfen, ans Ufer, zwischen zwei Bäume. Später wurde er zusammen mit seinem Bruder in St. Basil begraben. Sie waren die ersten russischen Heiligen in der russischen und byzantinischen Glaubensgemeinschaft.
Eine Messe wurde komponiert zu Ehren dieser beiden Brüder, die sich widerstandslos hatten töten lassen.
Aber Chruschtschow besucht Boris Gleb nicht als Pazifist. Er ist der oberste Führer der Sowjetunion und besichtigt das sowjetische Kraftwerk in Skoltfossen, das von Norwegern gebaut wird. Er bringt seine Freude darüber zum Ausdruck, dass ein solcher Auftrag nach Norwegen gegangen ist. Vater ist sichtlich erfreut, als wir im Zug nach Fredrikstad sitzen und gemeinsam Dagbladet lesen.
»Es gibt Hoffnung!«, sagt er. »Russland ist unser Nachbarland. Wir dürfen keine Feinde sein.«
Ich höre auf alles, was Vater sagt. Wenn er über Chruschtschow und Kennedy spricht, denke ich an zwei strenge Väter, die uns alle töten können. Das hat jedenfalls Mads gesagt, als wir an der Haltestelle Hovseter unser letztes Gespräch vor den Sommerferien führten.
»Denk doch nur, Ketil, die können uns vernichten, diese beiden!«
»Wie denn?«
»Jeder hat seinen roten Koffer. Und sein rotes Telefon. Und seinen roten Knopf. Und wenn sie auf den Knopf drücken, dann ist es aus und vorbei mit uns!«
Ich hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Das machte mir Sorgen. Er ist der stabilste Punkt in meinem Leben. Wir entdecken die Welt gemeinsam. Nicht so, dass wir auf dem Schulhof kitschig unzertrennlich sind, wie einzelne Mädchen das sein können, wenn sie sich in kleinen Gruppen zusammentun und alle anderen wegekeln. Neben der Weltpolitik haben Mads und ich schlichte Interessen. Mads bastelt gern, schnitzt. Werklehrer Breivik, den wir den Tjapp-Tja-Mann nennen, weil er immer »Tjapp tja« sagt, wenn er ein neues Holzstück beurteilen soll, beschäftigt Mads die ganze Zeit mit Erle, Lärche, Weide, Tanne und Kiefer. Immer neue Schüsseln, Löffel und Gebrauchsgegenstände. Mads verfügt über die