Am Ende sterben wir sowieso. Adam Silvera
Abschied gebracht. Keine letzte Umarmung mit meiner Familie, keine letzte Umarmung mit den Plutos. Dabei geht es nicht mal um den Abschied, Mann, sondern darum, den Leuten für alles, was sie für mich getan haben, Danke zu sagen. Für die Treue, die Malcolm mir immer wieder bewiesen hat. Den Spaß, den Tagoe uns mit seinen Drehbüchern für irgendwelche B-Movies gemacht hat, mit Kanarienclown und der Karneval des Grauens oder Schlangentaxi – obwohl Die Vertretungsärztin selbst für einen schlechten Film absolut unterirdisch war. Wenn Francis die Figuren nachgemacht hat, hab ich mich weggeschmissen vor Lachen und ihn schließlich angefleht aufzuhören, weil mir die Brust wehtat. Ich will mich auch für den Nachmittag bedanken, als Jenn Lori mir Patiencespielen beigebracht hat, damit ich etwas zu tun hatte, aber trotzdem allein sein konnte. Für das tolle Gespräch mit Francis, als alle anderen schon im Bett waren und er mir erklärt hat, dass man bei einem Kompliment lieber nicht das Aussehen eines hübschen Menschen betont, sondern sich was Persönlicheres ausdenken soll, denn »schöne Augen kann jeder haben, aber nur ganz besondere Menschen können das Alphabet summen, sodass es zu deinem neuen Lieblingssound wird«. Danke auch dafür, dass Aimee immer ehrlich war, sogar eben noch, als sie mich losließ und mir sagte, dass sie mich nicht mehr liebt.
Ich hätte wirklich noch eine letzte Plutosonnensystem-Gruppenumarmung gebrauchen können. Aber jetzt kann ich nicht zurück. Vielleicht hätte ich nicht abhauen sollen. Wahrscheinlich gibt es jetzt nur noch mehr Anklagepunkte gegen mich, aber ich hatte keine Zeit mehr zum Überlegen.
Ich muss das den Plutos gegenüber wiedergutmachen. In ihren Grabreden haben sie nichts als die Wahrheit gesagt. Ich hab in letzter Zeit zwar Scheiße gebaut, aber ich bin kein schlechter Mensch. Sonst wären Malcolm und Tagoe nicht meine Kumpels gewesen und Aimee nicht mein Mädchen.
Sie können nicht bei mir sein, aber das heißt nicht, dass ich allein sein muss.
Ich will echt nicht allein sein.
Also rappele ich mich auf und gehe zu der Wand mit dem Graffito und einem ölverschmierten Werbeplakat für etwas namens Make-A-Moment rüber. Ich starre die Letzte Freunde-Silhouetten auf der Mauer an. Seit meine Familie umgekommen ist, hätte ich geschworen, dass ich allein sterben würde. Vielleicht wird es auch so sein, aber nur weil ich als Letzter übrig geblieben bin, heißt das nicht, dass ich keinen letzten Freund haben kann. Ich weiß, dass ein guter Rufus in mir steckt, der Rufus, der ich früher war, und vielleicht kann ihn ein letzter Freund wieder zum Vorschein bringen.
Apps sind eigentlich nicht mein Ding, aber Leuten die Fresse zu polieren auch nicht, von daher bin ich heute eh nicht ganz ich selbst. Also öffne ich den App-Store und lade die Letzte Freunde-App herunter. Der Download geht extrem schnell; frisst wahrscheinlich höllisch viel Datenmenge, aber was solls.
Ich melde mich als Todgeweihter an, erstelle mein Profil, lade ein altes Foto aus meinem Instagram-Account hoch, und los gehts.
Nachdem ich in den ersten fünf Minuten schon sieben Nachrichten bekommen habe, fühle ich mich gleich etwas weniger einsam – auch wenn ein Typ mir irgendeinen Bullshit erzählt, er hätte das Mittel gegen den Tod in seiner Hose. Nee, da sterb ich lieber.
MATEO
03:14 Uhr
Ich passe die Einstellungen meines Profils an, sodass es nur für Leute zwischen sechzehn und achtzehn sichtbar ist. Ältere Männer und Frauen können mich ab sofort nicht mehr kontaktieren. Ich gehe noch einen Schritt weiter, und jetzt können sich nur registrierte Todgeweihte mit mir in Verbindung setzen, damit ich mich mit niemandem rumschlagen muss, der ein Sofa oder Dope kaufen will. Das reduziert die Anzahl der potenziellen Onlinefreunde deutlich. Sicher gibt es Hunderte, vielleicht auch Tausende Teenager, die heute ihre Todesnachricht erhalten haben, aber momentan sind nur neunundachtzig registrierte Todgeweihte im Alter zwischen sechzehn und achtzehn online. Ich bekomme eine Nachricht von einer Achtzehnjährigen namens Zoe, beachte sie aber nicht weiter, als ich plötzlich das Profil eines Siebzehnjährigen namens Rufus entdecke. Den Namen habe ich schon immer gemocht. Ich klicke das Profil an.
Name: Rufus Emeterio
Alter: 17
Geschlecht: männlich
Größe: 1,78m
Gewicht: 75,5kg
Ethnische Herkunft: Kubanoamerikaner
Sexuelle Orientierung: bisexuell
Beruf: professioneller Zeitverschwender
Hobbys: Radfahren, Fotografie
Lieblingsfilme/-fernsehserien/-bücher: <keine Angabe>
Wer du im Leben warst: Ich hab was überlebt, das ich nicht hätte überleben sollen.
Dinge, die du vor deinem Tod noch erledigen willst: Es wiedergutmachen.
Letzte Gedanken: Es ist Zeit. Ich habe Fehler gemacht, werde aber anständig abtreten.
Ich will mehr Zeit, mehr Leben, und dieser Rufus Emeterio hat sein Schicksal schon akzeptiert. Vielleicht hat er vor, sich umzubringen. Wenn er auf dem Selbstzerstörungstrip ist, sollte ich mich besser von ihm fernhalten – vielleicht ist er der Grund, weshalb meine Zeit abläuft. Aber sein Foto passt nicht zu dieser Theorie. Er lächelt und hat einen einladenden Blick. Ich werde mit ihm chatten, und wenn ich ein gutes Gefühl habe, könnte seine Aufrichtigkeit mir vielleicht dabei helfen, mich mir selbst zu stellen.
Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen. Mit einem Hallo riskiere ich ja nichts.
Mateo T. (03:17 Uhr): Tut mir leid, dass du dich verabschieden musst, Rufus.
Ich bin es nicht gewohnt, Kontakt zu Fremden aufzunehmen. Früher habe ich schon ein paarmal darüber nachgedacht, ein Profil auf Letzte Freunde einzurichten, um Todgeweihten Gesellschaft zu leisten, aber ich hatte nicht das Gefühl, ihnen viel bieten zu können. Jetzt, wo ich selbst einer bin, verstehe ich den verzweifelten Wunsch nach einer Bindung besser.
Rufus E. (03:19 Uhr): Hey, Mateo. Coole Mütze.
Er hat geantwortet! Und die Luigi-Mütze auf meinem Profilbild gefällt ihm. Er hat bereits einen Draht zu dem Menschen, der ich werden möchte.
Mateo T. (03:19 Uhr): Danke. Allerdings werde ich sie wohl besser zu Hause lassen. Sie ist doch etwas zu auffällig.
Rufus E. (03:19 Uhr): Gute Entscheidung. Schließlich ist eine Luigi-Mütze kein normales Basecap, was?
Mateo T. (03:19 Uhr): Genau.
Rufus E. (03:20 Uhr): Moment mal, du warst noch gar nicht draußen?
Mateo T. (03:20 Uhr): Nö.
Rufus E. (03:20 Uhr): Bist du eben erst angerufen worden?
Mateo T. (03:20 Uhr): Der Todesbote hat sich kurz nach Mitternacht bei mir gemeldet.
Rufus E. (03:20 Uhr): Und was hast du die ganze Zeit gemacht?
Mateo T. (03:20 Uhr): Aufgeräumt und Videospiele gespielt.
Rufus E. (03:20 Uhr): Welches Spiel?
Rufus E. (03:21 Uhr): Egal, das Spiel ist unwichtig. Willst du gar nichts mehr machen? Worauf wartest du?
Mateo T. (03:21 Uhr): Ich habe mit potenziellen letzten Freunden geredet und sie waren … nicht so der Bringer ist noch das Netteste, was man dazu sagen kann.
Rufus E. (03:21 Uhr): Wozu brauchst du einen letzten Freund, um in den Tag zu starten?
Mateo T. (03:22 Uhr): Wozu brauchst DU einen letzten Freund, obwohl du doch Freunde hast?
Rufus