Maigret beim Minister. Georges Simenon

Maigret beim Minister - Georges  Simenon


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       Der 46. Fall

      Georges Simenon

      Maigret beim Minister

      Roman

      Aus dem Französischen von Hansjürgen Wille, Barbara Klau und Julia Becker

      Kampa

      1 Der Bericht des verstorbenen Calame

      Wie immer, wenn er abends nach Hause kam, blickte Maigret an der gleichen Stelle des Gehwegs, kurz hinter der Gaslaterne, zu den erleuchteten Fenstern seiner Wohnung hinauf. Es war ihm gar nicht bewusst. Hätte ihn jemand plötzlich gefragt, ob dort Licht brenne oder nicht, hätte er vielleicht mit der Antwort gezögert. Und genauso war es ihm zur Gewohnheit geworden, schon auf der Treppe zwischen dem zweiten und dritten Stock seinen Mantel aufzuknöpfen, um den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu holen, obwohl sich, sobald er den Fuß auf die Matte setzte, regelmäßig die Wohnungstür öffnete.

      Es waren Rituale, die sich im Lauf der Jahre herausgebildet hatten und an denen er mehr hing, als er hätte zugeben wollen. Wenn es etwa regnete, streckte seine Frau ihm auf eine spezielle Art die Hände entgegen, um ihm seinen nassen Schirm abzunehmen, und beugte gleichzeitig den Kopf vor, um ihn auf die Wange zu küssen.

      Aber heute regnete es nicht, und er fragte wie üblich:

      »Kein Anruf?«

      Während Madame Maigret die Tür schloss, antwortete sie:

      »Doch. Ich fürchte, es lohnt sich kaum, dass du deinen Mantel ausziehst.«

      Es war ein grauer Tag gewesen, weder kalt noch warm, mit einem kurzen Schauer um zwei Uhr nachmittags. Am Quai des Orfèvres hatte Maigret sich nur mit den laufenden Angelegenheiten beschäftigt.

      »Hast du gut zu Abend gegessen?«

      Das Licht in ihrer Wohnung war wärmer und gemütlicher als im Büro. Neben seinem Sessel standen die Hausschuhe bereit, und auch die Zeitungen hatte seine Frau für ihn hingelegt.

      »Ich habe mit dem Chef, Lucas und Janvier in der Brasserie Dauphine gegessen.«

      Danach waren alle vier zur Versammlung der Polizeigewerkschaft gegangen. Seit drei Jahren war Maigret jedes Mal gegen seinen Willen zum stellvertretenden Vorsitzenden gewählt worden.

      »Für eine Tasse Kaffee hast du noch Zeit. Zieh also ruhig deinen Mantel aus. Ich habe gesagt, du kämst nicht vor elf zurück.«

      Es war halb elf. Die Sitzung hatte nicht lange gedauert. Zu mehreren hatten sie dann noch in einer Brasserie ein Bier getrunken, und Maigret war mit der Metro zurückgefahren.

      »Wer hat angerufen?«

      »Ein Minister.«

      Maigret, der mitten im Wohnzimmer stand, sah sie an und runzelte die Stirn.

      »Welcher Minister?«

      »Der Minister für Öffentliche Arbeiten, er heißt Point, wenn ich den Namen richtig verstanden habe.«

      »Auguste Point, ja. Er hat hier angerufen? Persönlich?«

      »Ja.«

      »Hast du ihm nicht gesagt, dass er beim Quai des Orfèvres anrufen soll?«

      »Er will mit dir sprechen. Er muss dich dringend sehen. Als ich ihm gesagt habe, du bist nicht da, hat er gefragt, ob ich das Dienstmädchen bin. Er wirkte verärgert. Ich habe gesagt, ich sei Madame Maigret. Daraufhin hat er sich entschuldigt, wollte wissen, wo du bist und wann du zurückkommst. Er kam mir recht schüchtern vor.«

      »Das passt aber nicht zu seinem Ruf.«

      »Ich musste ihm sogar sagen, ob ich allein bin oder nicht. Dann hat er mir erklärt, sein Anruf müsse geheim bleiben, er rufe nicht vom Ministerium, sondern aus einer Telefonzelle an und er müsse so schnell wie möglich mit dir sprechen.«

      Während sie sprach, blickte Maigret sie, immer noch stirnrunzelnd und mit einer Miene an, die verriet, wie wenig er der Politik traute. Im Lauf seiner Karriere hatte er es mehrmals erlebt, dass sich Politiker, Abgeordnete, Senatoren oder irgendwelche anderen hochgestellten Persönlichkeiten an ihn gewandt hatten, aber das war jedes Mal auf dem Dienstweg geschehen. Er war zum Chef gerufen worden, und das Gespräch hatte immer so begonnen:

      »Mein armer Maigret, ich muss Sie leider mit einem Fall behelligen, der Ihnen nicht gefallen wird.«

      Und wirklich waren es immer unerfreuliche Angelegenheiten gewesen.

      Er kannte Auguste Point nicht persönlich, war ihm auch noch nie begegnet. Er gehörte nicht zu den Männern, über die in den Zeitungen viel berichtet wurde.

      »Warum hat er nicht am Quai angerufen?«

      Die Frage stellte er sich eigentlich selbst, aber Madame Maigret antwortete trotzdem:

      »Woher soll ich das wissen? Ich kann nur wiederholen, was er gesagt hat. Zum einen, dass er aus einer öffentlichen Telefonzelle angerufen hat …«

      Das hatte auf Madame Maigret besonderen Eindruck gemacht, denn für sie war ein Minister eine bedeutende Persönlichkeit, zu der es nicht passte, sich abends heimlich in eine Telefonzelle an der Ecke irgendeines Boulevards zu schleichen.

      »… und dann, dass du nicht ins Ministerium kommen sollst, sondern in seine Privatwohnung, die er behalten hat …«

      Sie sah auf einem Blatt Papier nach, auf das sie ein paar Worte notiert hatte:

      »… Boulevard Pasteur 27. Du brauchst die Concierge nicht zu bemühen. Es ist im vierten Stock links.«

      »Er wartet dort oben auf mich?«

      »Er wartet, solange es nötig ist, sollte aber möglichst vor Mitternacht zurück im Ministerium sein.«

      In verändertem Ton fragte sie:

      »Glaubst du, das Ganze ist ein Scherz?«

      Er schüttelte den Kopf. Es war natürlich ungewöhnlich, seltsam, aber nach einem Scherz klang es nicht.

      »Trinkst du deinen Kaffee?«

      »Nein, danke. Nicht nach dem Bier.«

      Im Stehen goss er sich einen Schluck Prunelle ein, nahm eine saubere Pfeife vom Kamin und ging zur Tür.

      »Bis nachher.«

      Als er wieder auf dem Boulevard Richard-Lenoir stand, begann sich die Feuchtigkeit, die schon den ganzen Tag in der Luft spürbar gewesen war, zu einem schmutzigen Nebel zu verdichten, der einen Dunstkreis um die Laternen bildete. Er nahm kein Taxi. Zum Boulevard Pasteur kam er genauso schnell mit der Metro. Vielleicht tat er es auch deshalb nicht, weil er nicht in offiziellem Auftrag unterwegs war.

      Während der gesamten Fahrt starrte er gedankenverloren einen bärtigen Herrn an, der ihm gegenübersaß und eine Zeitung las, und fragte sich, was Auguste Point wohl von ihm wollte, und vor allem, warum er ihn so dringend und so heimlich sehen musste.

      Er wusste von Point nur, dass er aus der Vendée stammte – aus La Roche-sur-Yon, genauer gesagt –, dass er Anwalt gewesen und erst spät zur Politik gekommen war. Er gehörte zu den Abgeordneten, die wegen ihres Verhaltens während der Besatzungszeit ins Parlament gewählt worden waren.

      Was er eigentlich geleistet hatte, wusste Maigret nicht. Immerhin war er, während manche seiner Kollegen die Kammer wieder verließen, ohne sich einen Namen gemacht zu haben, dreimal nacheinander wiedergewählt worden und hatte vor drei Monaten bei der Bildung des neuen Kabinetts das Ministerium für Öffentliche Arbeiten erhalten.

      Der Kommissar hatte keinerlei Gerüchte über ihn gehört, wie sie über die meisten Politiker erzählt werden, auch nicht über seine Frau oder seine Kinder, falls er welche hatte.

      Als Maigret an der Station Pasteur aus der Metro stieg, war der Nebel dicht und gelb geworden, und er spürte die feuchten Luftpartikel auf den Lippen. Auf dem Boulevard sah er niemanden, hörte nur entfernt Schritte, die sich in Richtung


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