Dr. Norden Extra Box 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Inhalt
Ein Traum, der keiner mehr ist
Ein ganz besonderes Wochenende
Man hielt sie für ein Traumpaar
Acht Jahre lang war es her, daß sich Jessica de Wieth, zwanzig Jahre jung, von Dr. Norden verabschiedet hatte, um als Victor Santorros Frau nach Beverly Hills zu gehen. Sie war ein bezauberndes, bildschönes Mädchen gewesen, in das sich der schon sehr bekannte Filmschauspieler während der Dreharbeiten in den Bayerischen Bergen verliebt hatte.
Daß er in Jessica auch die reiche junge Erbin sah, die erst vor einem Jahr ihre Eltern durch einen tragischen Unfall verloren hatte, daran dachte niemand, auch Jessicas Vermögensverwalter nicht.
Victor Santorro bekam horrende Honorare, besaß eine feudale Villa und man konnte ihm auch keine Affären nachsagen.
Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt, die Jessicas Vermögensverwalter, Dr. Kollberg, der selbst an der Filmproduktion beteiligt war, gegeben hatte.
Das wunderschöne Landhaus in der Nähe von Garmisch, das auch zu Jessicas ererbtem Besitz gehörte, war auch Schauplatz in dem Film. Jessica, die große Neigung gezeigt hatte, selbst einmal Drehbücher zu schreiben, und der auch großes Talent nachgesagt wurde, hatte bei den Dreharbeiten dabeisein wollen.
Sie war ein modernes, intelligentes junges Mädchen gewesen, aber Erfahrungen mit Männern hatte sie noch nicht gemacht. So hatte Victors Charme sie buchstäblich überrollt.
Er sah blendend aus, der richtige Herzensbrechertyp, was er aber nicht hören wollte. Er war der geborene Schauspieler, allerdings auch im wirklichen Leben, was alle, die mit ihm zu tun hatten, jedoch erst merkten, wenn es für sie zu spät war.
In den Illustrierten hatte man von der Hochzeit des Traumpaares lesen können. Konnte sie bewundern in ihrem Traumhaus, auf Partys und auf Reisen. Ausführlich war über die Geburt der Tochter Laura berichtet worden, aber dann war es um die bezaubernde Jessica stiller geworden. Man sah Victor mit anderen Frauen, man erfuhr, daß Jessica sich ganz ihrer Tochter widme. Vor zwei Jahren hatten auch die Nordens aus der Zeitung erfahren, daß Jessica mit einem Nervenzusammenbruch in ein Sanatorium eingeliefert worden sei. Dann war die Meldung von der Scheidung und dem Kampf um das Sorgerecht für das Kind gekommen.
Fee und Daniel Norden waren bestürzt, was da so alles von der Sensationspresse aufgebauscht wurde, aber wenn man auch nur einen Teil glauben wollte, war es schon genug. Der Traum vom märchenhaften Glück schien schnell geplatzt zu sein. Fee tat es sehr leid, daß ihre Ahnung, ob das gutgehen könne, sich erfüllen sollte.
Es gab niemanden, der ihnen sagen konnte, was nun wahr an all diesen Geschichten war und was nicht. Jessica, die anfangs noch ab und zu einen Gruß geschickt hatte, ließ nichts mehr von sich hören.
Fee fand auch keine Berichte mehr in den Zeitungen. Von Victor Santorro konnte sie nur lesen, daß sein letzter Film total verrissen worden war.
»Wenn wir doch nur wüßten, was mit Jessica ist«, sagte sie wieder einmal mit einem schweren Seufzer.
»Eigentlich müßten ihr die Ohren klingen, so oft sprechen wir von ihr«, sagte Daniel nachdenklich. »Wenn sie ihr das Kind wegnehmen, sehe ich schwarz.«
Zwei Tage später betrat eine blasse mit unauffälliger Eleganz gekleidete junge Frau die Praxis von Dr. Norden.
Wendy blickte in ein schmales, ernstes Gesicht von reifer, fast ergreifender Schönheit.
Der melancholische Ausdruck der großen dunklen Augen verursachte ihr beinahe Beklemmung.
»Mein Name ist de Wieth, ich hätte gern einen Termin bei Dr. Norden.« Wendy hörte eine etwas heisere Stimme.
»Waren Sie schon bei ihm?« fragte Wendy.
»Ja, aber es mag etwa acht Jahre her sein. Sie waren damals noch nicht in der Praxis.«
»Ich bin erst seit ein paar Monaten hier. Man nennt mich Wendy.«
Wendy wußte einfach nicht, was sie sagen sollte, sie war wie benommen unter diesem Blick, der ihre Seele zu erforschen schien.
»Ich werde Ihre Karteikarte heraussuchen«, erklärte sie stockend. »Würden Sie bitte Platz nehmen?«
»Hätte Dr. Norden Zeit für mich?« fragte Jessica leise.
»Aber sicher.«
Da kam er schon aus dem Sprechzimmer. »Wendy…« Mehr brachte er nicht über die Lippen, wie erstarrt blieb er stehen und sah Jessica ungläubig an.
»Jessica?«
»Ja, ich bin es«, sagte sie mit bebender Stimme.
Er streckte ihr beide Hände entgegen. »Können Sie sich noch ein paar Minuten gedulden, ich bin gleich fertig.«
»Ich habe viel Zeit«, erwiderte sie tonlos.
Er führte sie in den Therapieraum. »Entspannen Sie sich, Jessica«, sagte er fürsorglich. »Ich bin bald bei Ihnen.«
Wendy sah ihn fragend an. »Würden Sie mir sagen, wo die alten Karteikarten aufbewahrt werden? Die Patientin sagte, daß sie vor acht Jahren hier gewesen sei.«
»Ich brauche keine Karteikarte, ich brauche nur Zeit für sie. Rufen Sie bitte meine Frau an, und sagen Sie ihr, daß ich noch in der Praxis bleibe, aber sagen Sie ihr nicht, wer gekommen ist. Das möchte ich ihr selbst sagen.«
Nun war Wendy erst recht verwirrt. Sie hätte liebend gern mehr von dieser geheimnisvollen Patientin erfahren, deretwegen Dr. Norden sogar seine Mittagspause einschränken wollte, und er nannte sie beim Vornamen.
Jessica de Wieth, in irgendeinem Zusammenhang hatte sie diesen Namen schon mal gehört, aber da Wendy keine Ahnung hatte von dem, was vor acht Jahren hier begonnen hatte, war es für sie auch nicht interessant gewesen, wenn sie wirklich mal etwas über das Ehepaar Santorro gelesen hatte.
Jessica hatte sich in dem bequemen Ledersessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ihre Gedanken wanderten zurück zu jener Zeit, in der sie noch ein unbeschwertes Mädchen gewesen war, das mit allen Wehwehchen zu dem lieben Dr. Norden gekommen war. Fünfzehn war sie gewesen, als sie beim Sport gestürzt war und sich beide Knie aufgeschlagen hatte. Sie konnte gerade noch humpeln, aber abends wollte sie unbedingt zur Tanzstunde gehen. So war Jessica immer gewesen. Nach einem Sturz mit dem Fahrrad, als sie sich verbrüht und so in die Hand geschnitten hatte, daß sie genäht hatte werden müssen. Erkältungskrankheiten hatte sie selten gehabt, aber wenn es sie mal erwischt hatte, dann gleich ordentlich. Jessicas Eltern hatte Daniel Norden auch sehr gut gekannt. Sie hatten mit all ihrem Reichtum nicht viel Glück gehabt im Leben. Sie hätten gern mehrere Kinder gehabt, aber Hannelore de Wieth hatte zwei Fehlgeburten gehabt und einen kleinen Sohn hatten sie im Alter von drei Jahren an einer Hirnhautentzündung verloren. Es war nicht verwunderlich, daß sich ihre ganze Liebe auf Jessica konzentriert hatte und daß sie in ständiger Angst um sie gelebt hatten.
Sie hatten sich auch nie von Jessica getrennt. Als sie bei dem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen waren, war es auch ein Zufall gewesen, daß Jessica nicht bei ihnen war. Sie war mit ihrer Abiturklasse nach Paris gefahren. Ihre Eltern wollten sie bei der Rückkehr vom Flughafen abholen. Auf der Fahrt dorthin wurden sie von einem Lastwagen gerammt, dessen Fahrer übermüdet am Steuer eingeschlafen