Kojas Waldläuferzeit. Alois Theodor Sonnleitner

Kojas Waldläuferzeit - Alois Theodor Sonnleitner


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die hässlichste Stunde ihres Lebens vorzuhalten. Die Anzeichen einer Wendung zum Bessern mehrten sich. Der Augensegen, den Agi den Briefen der Mutter auf den Weg mitgegeben hatte, schien seine Fernwirkung geübt zu haben. Der Postbote brachte wiederholt Bargeld von den Schuldnern; von der Grossmutter lief die Antwort ein, im Herbste, wenn die Zuckerrübenernte an die Fabriken abgegeben würde, könnte sie von der Verwandtschaft wohl ausgiebige Beträge zusammenerbitten. Bei der gerichtlichen Tagsatzung erklärten sich die Gläubiger bereit, von der sofortigen Einlösung ihrer Schuldscheine Abstand zu nehmen, wenn ihnen dafür Wechsel mit beschränkter Laufzeit eingehändigt würden. Es kam ein Übereinkommen zustande, das den Müllerleuten einige Monate Zeit liess. So war die Hilfsbereitschaft der Sonnleitner - Grossmutter für die Bekümmerten ein fester Grund geworden, aus dem die Hoffnung spross, dass ihnen Haus und Hof verblieb, dass sie nicht wieder bettelarm fort mussten in die Fremde.

      Die liebe Frühlingssonne verwandelte den Obstgarten bei der Neudamühle in ein Paradies blütenreicher Kronen, im Hausgarten dufteten die Narzissen, die Tulpen und Kaiserkronen prangten in flammendem Rot und Gelb. Das junge Grün der Wiesen war bunt durchsetzt von goldigen Primeln, sattweissen Milchsternen, dunkelblauen Meersternen, glänzend gelben Hahnenfüssen, lilablauen Wiesenschaumkräutern und den weissen, rosig angehauchten Strahlenkörbchen der Massliebchen. Am schönsten aber waren jene Wiesen, wo die Blauträubchen vorherrschten. Und darüber gaukelten Schmetterlinge wie schwebende Blumen. Garten und Au widerhallten von den Paarungsliedern der Singvögel, der Hof vom Krähen des Hahns, vom Hühnergackern und Taubengurren. Und all dies Leben gehörte zur Neudamühle. Und die gehörte den Lorentischen. Agi und Koja wandelten in Entzücken. Des Mädchens Wangen röteten sich wie die zartrosigen Knospen des Friggadornsb) und ihre Augen glänzten in stiller Hoffnungsfülle. — Der Vater war zu seinen Gunsten verändert, die Mutter hatte gute Tage. Das liebe Heim mit den Kühen und Kälbern, den Pferden und Fohlen, den Hühnern und Kücken, den Enten und Gänsen und ihrem flaumigen Nachwuchs, all die von Vögeln umsungene Herrlichkkeit, die verloren geschienen hatte, sollte gerettet bleiben. Und Koja schwelgte in neuen, nie gekosteten Freuden: der Vater nahm ihn auf den Korn- und Mehlboden mit, wo es alte, buntbemalte Truhen und in den Winkeln allerlei Kram gab, Spanleuchter und Spinnräder, Fallen und Käfige; er liess sich von ihm den Schleifstein drehen, wenn er die Geräte schärfte, und liess von Koja Zureicherdienst tun, wenn er auf der Hanselbank neue Axt- und Hauenstiele schnitzte. Er liess den Jungen gewähren, als derselbe für die Roserl Puppenmöbel baute. Und abends schaute er mit Wohlgefallen Kojas Aufgaben an. Agi und Mutter waren glücklich.

      Es war nach der Jausenzeit am letzten Sonntag im Mai. Die Mühle war wie ausgestorben. Die Dienstleute waren drüben in Marbach und Maria Taferl, Vater und Koja in der Au. Als Heimhüterinnen sassen Mutter und Agi beim Tischchen im Schatten der Hauslinde, beide mit dem Anstricken schadhafter Socken beschäftigt, die beim Durchsehen der reinen Wäsche ausgeschieden worden waren. Sie empfanden die Handarbeit nicht als Entheiligung des Sonntags. Agi las dabei, ohne im Stricken irre zu werden, mit dem höchsten Behagen inneren Erlebens den „Weihnachtsabend“ von Charles Dickens,c) den ihr eine der Oberlehrerstöchter geborgt hatte. Sie las halblaut im ruhigen Erzählerton. Was sie trotz ihrer Jugend daran fesselte, war die allmähliche Umwandlung des gefühllosen Selbstlings Mr. Scrooged) zu einem hilfsfreudigen Menschen. So fremd und zeitfern ihr die Geschichte war, Agi lebte sich hinein und lernte glauben, was sie wünschte: dass auch ein bejahrter Mann noch sein ganzes Wesen ändern könnte für alle Zukunft, wenn er im Grunde seiner Seele von einem guten Gedanken gepackt wurde. Sie dachte an den Vater. Auch Mutter Maria las, aber nicht im Buche, sondern im Gesichte ihrer Tochter, deren wechselndes Mienenspiel Mitleid und Mitfreude an den Ereignissen spiegelte. Und sie fühlte das Hoffen Agis mit; denn zwischen ihr und der Tochter bestand eine gegenseitige auf Gleichgestimmtheit beruhende Wahrnehmungsfähigkeit für das innere Erleben der anderen.

      In der blütenübersäten Krone der Linde war ein lautes Summen von Bienen und Hummeln; es klang wie fernes, im Windesströmen an- und abschwellendes Klingen unzähliger Saiten. — Vom Flur her war das Zwitschern der Schwalben vernehmbar und vom Hofe herüber nur gedämpft das Gezänke der Sperlinge und die Stimmen des Hausgeflügels. — Da scholl vom Erlafsteg her Saitengetön, das einen zweistimmigen Sang begleitete. Mutter und Agi horchten auf. Aus dem Schatten der Au traten zwei hochaufgeschossene, dunkelhaarige Jünglinge. Barhäuptig schritten sie dahin wie zwei fröhliche Brüder. Der eine spielte im Gehen die Laute und beide sangen dazu ein munteres Lied, von dem weder Worte noch Melodie den Lauschenden bekannt waren. Als die Burschen näherkamen, verklang der Kehrreim der letzten Strophe: „Gelobet seist zu jeder Zeit, Frau Musika.“ —

      Fröhlich grüssend traten sie an den Tisch und stellten sich der Müllerin vor als die Melker Studenten Hans Paul und Peter Urban. Freimütig erbaten sie sich eine Wegstärkung. Da brachte Mutter Maria einen irdenen Krug voll Milch aus dem Keller und legte Brotlaib, Löffel und Messer vor die Studenten: „Gesegn’ es euch Gott!“ — Als die beiden sich die bartlosen Lippen wischten und nach der Schuldigkeit fragten, bat die Müllerin „Singt uns etwas, eh’ ihr weiterzieht“. — Agis Augen gingen bittend von einem zum andern. Da flüsterte Hans Paul dem Kameraden die Frage zu: „Den roten Sarafan?“e) Urban nickte und schlug ein paar Akkorde an. Er sang die erste, der andere die zweite Stimme.

      Näh nicht liebes Mütterlein

      Am roten Sarafan;

      Nutzlos wird die Arbeit sein,

      Drum strenge dich nicht an.

      Tochter setz dich nieder

      An meiner Seite hier;

      Jugend kehrt nicht wieder,

      Wich sie einmal von dir.

      Ich auch sang einst Lieder,

      Lachte, tanzt’ und sprang;

      Steif sind jetzt die Glieder,

      Hinkend ist mein Gang.

      An dem Sarafan zu näh’n,

      Heisst mich Erinnerung;

      Kann ich dich drin tanzen seh’n,

      Fühl’ ich mich wieder jung.

      „Jetzt aber eins vom Wandern,“ schlug Paul vor und sie sangen das Lied:

      Ein Sträussel am Hute, den Stab in der Hand,

      Muss ziehen der Wandrer von Lande zu Land.

      Er zieht viele Strassen, er zieht manchen Ort,

      :/: Doch fort muss er wieder, muss weiter fort. :/:

      Wohl sieht er ein Häuschen am Wege da steh’n,

      Umkränzet von Blumen und Trauben so schön.

      Hier könnt’s ihm gefallen, er wünscht, es wär sein;

      :/: Doch fort muss er wieder, die Welt aus und ein. :/:

      Ein liebliches Mädchen, das redet ihn an:

      „Sei freundlich willkommen, du Wandersmann!“

      Sie sieht ihm ins Auge, er drückt ihr die Hand;

      :/: Doch fort muss er wieder in ein anderes Land. :/:

      Ermuntert vom Ausdruck andächtigen Entzückens in den Mienen der Lauschenden, sprach Urban: „Und jetzt, mein lieber Paul, singen wir dein neues, das noch in keinem Büchel steht; das Lied, das du mir zulieb gedichtet hast.“ Und sie sangen:

      Kennst du mein Haus der Sehnsucht?

      Es steht auf grünem Hang

      In hellem Sonnenscheine,

      Umklungen von Vogelsang.

      Drin schaffen meine Lieben,

      Ihr Boden ist wohlbestellt;

      Es fehlt nicht an Blumen und Früchten

      In ihrer schönen Welt.

      Es zieht mich zum Haus meiner Sehnsucht

      Wo immer ich schreiten mag;

      Schon winkt dem Wandermüden

      Der


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