Das sechste Gebot. Max Geißler

Das sechste Gebot - Max Geißler


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Santa Croce lief die Felsengasse herab; die Schritte draussen auf den Steinfliesen zwischen den Häusern verklangen — es ging gegen die Mitternacht.

      Noch immer schwieg Ninetta — es war, als höre sie Prisca ins Herz. In dieser Nacht wollte sie alle Geheimnisse dieses Mädchens ergründen; in dieser Nacht wollte sie den heimlichen Brand zur lodernden Flamme entfachen.

      Aber Prisca sprach nicht. Es war, als schüttele ein Fieber den zuckenden, jungen Leib. Nur manchmal rang sich ein Laut über die heissen Lippen — halb Zagheit, halb Glückseligkeit. Aber Prisca sprach nicht.

      Ninetta tastete mit ihrer Hand über ihre Stirn und tastete über ihre Augen. Die Lider waren geschlossen.

      „Rede, Prisca! Es ist Mitternacht, und Santa Croce liegt schlafen.“

      „O Ninuccia! Werde ich glücklich sein?“

      „Du wirst es sein, Kind!“

      „O Nina, liebe, kluge Nina!“

      „Warum hast du dich heimlich verzehrt in Liebe zu Ettore Torino und hast dein Herz deiner Nina nicht verraten?“

      Da schluchzte Prisca: „O, Ettore Torino ist so reich, und ich bin arm! Ettore Torino ist so weit und hoch für die arme, mutterlose, hässliche Prisca!“

      „Du sollst nun nicht mehr arbeiten und sollst bunte Kleider tragen, Prisca! Du sollst schön sein!“

      Immer fester schlang das Mädchen bei diesen märchenhaften Versprechungen die Arme um den Hals der Frau Nina.

      „Wie kann ich schön sein? Wie kann ich?“ stammelte sie. Aber ihr junges verschüchtertes Herz jauchzte bei dem Gedanken an Ettore Torino.

      „Du wirst dich mit Wasser aus Rosen waschen, und ich will dir die Haut reiben mit sanftem Öl,“ versprach Nina.

      „O Ninuccia, liebe Ninuccia!“

      „Wir wollen die Heiligen um ihre Hilfe bitten!“

      „Aber Ettore Torino ist schön und stolz, er ist noch herrlicher als Teresina Margiottas Jäger!“

      Wie Prisca diesen Namen nannte und ihren Zweifel schlecht verbarg, zuckte Frau Nina zusammen. Die Schlange Eifersucht stach sie in dieser Stunde schlimmer als je zuvor.

      „Leonetta Margiotta!“ knirschte sie. Das klang wie ein Fluch.

      „Was erschreckt dich, Ninetta?“ fragte Prisca.

      „Ich hasse Leonetta Margiotta und ihre goldenen Haare. Die Männer sind närrisch auf so seidiges, goldenes Haar.“

      „Und Ettore Torino wird sie sehen und lieben!“ klagte Prisca.

      „Dio Cristo!“ knirschte Frau Nina. „Die Berge sollten über Leonetta Margiotta stürzen!“

      „Ob sie ihn lieb hat?“ forschte Prisca bange. „Natürlich hat sie ihn lieb. Alle Mädchen haben ihn lieb.“

      „Sie ist ja noch ein Kind, Prisca!“

      „Aber sie wird ein Weib. Über Nacht — wenn Ettore Torino aus Afrika von den Bersaglieri nach Santa Croce zurückgekehrt sein wird.“ ...

      „Was wird dann sein?“ forschte Nina.

      „Dann wird er keine sehen als sie.“

      „Bis dahin ist es noch länger als ein Jahr!“ tröstete die Nonna.

      „O, eine Ewigkeit! Und ich sterbe vor Sehnsucht nach Ettore Torino!“

      „Spricht Leonetta Margiotta von ihm?“ forschte Nina.

      „Niemals!“

      „Sie ist ein unwissendes Kind!“

      „Aber Teresina Margiotta wird mit ihr von ihm reden, sobald er wieder daheim ist. Meinst du nicht auch, Nina?“

      Nina Zeni grub ihre weissen Zähne in die fleischigen Lippen und zerbiss eine Verwünschung. In Wirklichkeit sah sie für Prisca keinen Weg in das Herz Ettore Torinos. Sie wusste: alle Mädchen von Santa Croce bitten die Heiligen um die Liebe des schönen, stolzen Sohnes Giani Torinos, der in den Bergen über Santa Croce das feurige Zederwasser brennt.

      Und Nina Zeni würde vergeblich nach einem Worte des Trostes für sich und Prisca gesucht haben, wenn sie nicht gewusst hätte, dass Ettore Torino erst in fünfzehn Monaten heimkehrte aus den Felsgebirgen Afrikas, in denen er bei der stolzen Truppe der Bersaglieri diente. O, nur die schönsten und kühnsten Jungen Italiens dürfen den Rock der Bersaglieri tragen — und einer, dessen Haut die Sonne Afrikas den kupferbraunen Glanz geschenkt hat, einer, dessen Augen die Fluten des heiligen Stromes schauen durften, solch einer sollte sich um die arme, stille Prisca von Santa Croce kümmern und sie lieb haben? Und noch dazu einer, dessen Vater Giani Torino heisst und dessen Erbe die Zederwasserfabrik ist? Einer, der einst fünfzig Arbeiterinnen in seinem Dienste haben wird — mehr, als ganz Santa Croce aufzubringen vermag?

      Prisca schwankten die Sinne, wenn sie das alles ausdachte. Sie war über ihrer stillen, heimlichen, heissen Liebe zu Ettore Torino einsilbig geworden und scheu. Sie arbeitete, um zu vergessen, arbeitete, bis ihr die Lider schwer wie Blei über die sehnsüchtigen Augen sanken; denn sie fürchtete die süssen, heissen, hoffnungslosen Träume, die zwischen Schlaf und Wachen um ihr Bett flogen. Und sie fürchtete, sich Nina Zeni während des Schlafes durch Klagen oder Worte verlangender Liebe zu verraten.

      Und nun?

      Nun brach diese Nacht herein, die ihr bewusst werden liess: Nina Zeni hat heimlich darauf gewartet, sie um das ängstlich gehütete Geheimnis ihres Herzens zu bestehlen. Sie hat dieses Geheimnis längst erkannt. Und Nina Zeni, die kluge, erfahrene Nina Zeni, wird von dem Gelde der Fremden schöne, bunte Kleider für Prisca schaffen und wird einen Weg finden, der hinanführt — hinan, wo zwischen hohen, grauen Mauern, zwischen den dichten Reben um das Besitztum Torinos die heissen Flämmchen der Granaten brennen und die süssen Früchte der blauen Feige reifen!

      Prisca schwindelte vor dem Glück dieser Gedanken. Diese Herrlichkeit sollte einst ihr gehören dürfen — der armen Prisca Zeni, so versicherte die Nonna tiefen Ernstes! Es war nicht zu glauben.

      In den Gassen von Santa Croce ging das Mondlicht, gingen die Klänge der Glocken einer Spätnachtstunde.

      Da entkleidete Nina Zeni mit leisen Händen die glückliche, hoffende Prisca und leitete sie zu ihrem Lager.

      „O, Ninetta mia, bist du wirklich voll Hoffnung?“ stammelte das Kind.

      „Prisca, Prisca, Ettore Torino soll Leonetta Margiotta verfluchen und dich lieb haben! Gute Nacht, liebe Prisca!“

      8.

      Nicht lange nachher vernahm Prisca zwischen dem harten Schlag ihrer Pulse die tiefen Atemzüge der Nonna. Einmal hörte sie noch den silbernen Fall des Quells in dem grossen Steintrog an der Piazzetta über die Gartenmauern herüber, und einmal — schon dumpf und verworren — die fremden Klänge der wunderlichen deutschen Sprache, von der sie nicht wusste, wie es möglich sei, sie zu verstehen oder gar zu sprechen — die deutsche Sprache mit ihren unmöglichen, misstönigen Zischlauten.

      Und in diesen harten deutschen Lauten, die durch das offene Fenster aus dem Zimmer jenseits des Flures in das silberne Licht des Mondes fielen, sprachen die zwei Menschen auch von ihrer Liebe und ihrer Hoffnung. Sie sprachen weich und in heimlichem Glück; sie standen mit ineinandergelegten Händen im klaren Glanze der Nacht, der wie silberne Schleier über sie durch das Fenster fiel. Auch sie sahen in diesem Tage den Weg ihres Lebens sich wenden. Und das kleine, arme Häuschen der Nina Zeni in der Felsengasse von Santa Croce sollte am Anfange dieser Fahrt zum Glücke stehen.

      Während Nina Zeni schon in tiefstem Schlafe lag, umfing Prisca auf ihrem Lager eine süsse Mattigkeit — so beseligend nach den heissen Wallungen ihres Blutes während der Vormitternacht, dass sie sich geschlossenen Auges dem berückenden Zauber hingab, den sie zum ersten Male empfand — empfinden durfte. Ihre junge Seele hatte sich gelöst in dem Geständnis ihrer Liebe. Nun breitete sie ihre Flügel aus und flog durch das


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