Politisches Storytelling. Michael Müller
was ›Manipulation‹ im Zusammenhang mit dem Erzählen bedeuten kann. Nur soviel vorab: Die Vorstellung von einer Kommunikation, die absichtslos nur von ›Wahrheiten‹ handelt, ist pure Fiktion. Es gibt keine kontextlose Wahrheit, Annahmen über die Realität sind immer die einer bestimmten Person, einer bestimmten Gruppe. Eine Geschichte zu erzählen bedeutet daher immer, sie aus einer bestimmten Perspektive zu erzählen. Wenn mir das als Rezipient bewusst ist, habe ich Distanz zwischen die Geschichte und mich gelegt und bin weniger manipulierbar (wenn man Manipulation einmal so versteht, dass jemand unbemerkt zu einem Handeln gebracht wird, das er von sich aus so nicht ausführen würde).
Geschichten, Storys, Narrative – ich werde auf die unterschiedlichen Bedeutungen dieser Begriffe noch eingehen –, sind ein wesentlicher, unverzichtbarer Bestandteil menschlicher Gesellschaften, und zwar jeder menschlichen Gesellschaft, ob in der Antike oder heute – auch wenn es uns oft so vorkommt, als ob erst unsere ›Mediengesellschaft‹ nach Geschichten verrückt sei. Natürlich wurde immer erzählt: Klischeehaft denken wir an die Lagerfeuer der Höhlenbewohner oder an die bäuerlichen Kachelöfen an langen Winterabenden. Über dieses unterhaltende oder belehrende Erzählen hinaus bilden aber Geschichten, narrative Strukturen, auch eine wesentliche Klammer, die Gesellschaften, Gruppen, Völker oder Kulturen zusammenhalten. Mythische oder religiöse Erzählungen über die Entstehung der Welt, der eigenen Gruppe oder der Regeln, nach denen wir leben, definieren Gesellschaften oder Gruppen: Woher kommen ›wir, die Griechen‹ (im Gegensatz zu den Barbaren) warum sind wir das auserwählte Volk, wie eint uns der Glaube an einen Gott und die Geschichten, die sich um ihn ranken, oder wie entstand die Demokratie und mit der Aufklärung das Wertesystem, dem wir uns als kultureller ›Westen‹ verpflichtet fühlen? All dies beruht auf Geschichten, Erzählungen, Narrativen, die eine Gruppe oder Gesellschaft teilt und über die sie sich definiert. Dabei gibt es eher inkludierende narrative Systeme, die relativ offen sind für Menschen, die Teil davon werden wollen, und eher exkludierende, die eine starke Grenze etablieren und damit die meisten Menschen ausschließen. Das klassische Narrativ der USA als Einwanderungsland, in dem jeder sein Glück suchen kann, ist ein inkludierendes, das Trump in ein exkludierendes zu verwandeln sucht. Viele Religionen sind einerseits inkludierende Story-Welten, wenn es um die Missionierung ›heidnischer‹ Völker geht, und zugleich exkludierende, wenn es gilt, Häretiker, Abweichler, Regelbrecher im Inneren auszuschließen (historisch häufig final). Und es gibt eher offene gesellschafts-konstituierende Story-Welten und eher geschlossene. Offene narrative Systeme sind solche, die nur wenige Basis-Narrative oder Geschichten voraussetzen, um Gemeinsamkeit zu schaffen und ansonsten ganze Bündel inkludierender Sinn-Narrative zulassen, solange sie nur mit dem Basis-Narrativ kompatibel sind. Geschlossene Story-Welten dagegen sind solche, die den Glauben oder zumindest die Akzeptanz eines ganz genau festgelegten Geschichten-Systems voraussetzen, um Zugehörigkeit zu definieren. Das ›christliche Abendland‹ des Mittelalters war ganz klar ein geschlossenes narratives System (man musste genau die Geschichten (und ›Wahrheiten‹), die in der Bibel standen, für zutreffend (oder tatsächlich geschehen) halten, und zwar alle, und nur sie. Unsere Gesellschaft ist eher offen, ›offiziell‹ gibt es nur wenige grundlegende Werte, Auffassungen und Narrative, deren Akzeptanz tatsächlich vorausgesetzt wird, etwa die Menschenrechte, das Grundgesetz und die Tradition eines aufklärerischen Liberalismus (ich meine hier explizit nicht den Wirtschaftsliberalismus!). Von konservativer und vor allem von rechtspopulistischer Seite wird in den letzten Jahren verstärkt diskutiert, wie offen wir eigentlich sein wollen: Fragen wie die, ob der Islam zu Deutschland gehört, schließen potenziell nicht nur Menschen islamischen Glaubens aus, sondern implizieren – in der Aktivierung des alten europäischen Narrativs vom Kampf des Islam gegen das Christentum –, dass das Christentum dagegen zu Deutschland gehört, und letztlich eine Inklusionsvoraussetzung ist. Auch Begriffe wie die des »Biodeutschen« (Biofranzosen, Biopolens, etc.) implizieren, dass Dazugehören über ein historisches Narrativ der Abstammung definiert sei. Dies ist übrigens ein besonders exkludierendes Narrativ, da es für nicht Dazugehörende niemals einholbar ist: Eine deutsche Abstammungsreihe kann ich, anders als eine Religionszugehörigkeit, als Neubürger niemals erreichen.
Politisches Storytelling in einem weiten Sinn bedeutet also auch die Erkenntnis, dass Geschichten, Narrative immer schon da sind: Unsere Welt, unsere Gesellschaft ist alles, was erzählt wird. Es sind die Narrative und Geschichten, in die wir hineingeboren, mit denen wir aufgewachsen sind, die wir selbst erlebt oder über die Medien rezipiert und die wir vielleicht auch ein wenig selbst mitgestaltet haben. Und die unsere Gesellschaft, ihre Überzeugungen und Werte, ihre Sinnangebote und Zukunftsvorstellungen ganz wesentlich definieren. Wir sind In Geschichten verstrickt, wie es der Philosoph Wilhelm Schapp in seinem Buchtitel (SCHAPP 42004) formulierte.
Politische Willens- und Meinungsbildung und gesellschaftliche Diskurse spielen auf dieser Klaviatur der Geschichten, Narrative und Meta-Narrative, ob sie wollen oder nicht, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Wesentlicher Teil jedes politischen Handelns ist der Umgang mit Geschichten und Narrativen. Auch wer glaubt, man könne rein mit Argumenten Gesellschaft verändern oder politische Willensbildung betreiben, arbeitet in Wirklichkeit auf dem Humus der Narrative und vielleicht lässt er mit seinen Argumenten eine Saite mitklingen, die die Melodie eines alten Narrativs oder eines, das gerade im Trend ist, spielen kann. Man kann all die Geschichten, in die wir verstrickt sind, wahrzunehmen und zu analysieren versuchen oder man kann sie ignorieren – da sind sie allemal.
Das Misstrauen oder die Reserviertheit gegenüber Geschichten rührt meiner Einsicht nach hauptsächlich daher, weil in unserer Gesellschaft ›narrative Kompetenz‹ unterrepräsentiert ist, auch bei Journalisten, vor allem aber bei Politikern und anderen gesellschaftlichen Gruppen, die relevante Diskurse mittragen. Unter ›narrativer Kompetenz‹ verstehe ich nicht so sehr die Fähigkeit, Geschichten erzählen zu können, sondern zu wissen, welche Funktionen Geschichten und Narrative in gesellschaftlichen Diskursen übernehmen, wie Sinn und Werte auch und vor allem durch Narrative etabliert und kommuniziert werden und was die Stellschrauben sind, an denen an Geschichten gedreht werden kann, um, positiv ausgedrückt, politische Meinungsbildung zu betreiben, oder negativ formuliert, zu manipulieren. Denn wie ich noch ausführen werde, benutzen beide Handlungsweisen die gleichen Werkzeuge. Entscheidend ist jedoch, mit welcher ethischen Haltung das geschieht. Meine Plädoyers für Schritte in Richtung der Rettung des politischen Diskurses – unter diesem Titel erscheint ja diese Buchreihe – sind daher folgende:
•Wir müssen uns klar machen, dass gesellschaftliche Diskurse, politische Meinungs- und Willensbildung, politische und gesellschaftliche Sinn- und Wertestiftung stark über Geschichten, Erzählungen und Narrative geschehen – ob uns das bewusst ist oder nicht, ob uns das passt oder nicht.
•Ähnlich wie wir wissen, dass und wie Fotos in der digitalen Welt bearbeitet, manipuliert und mit neuen Bedeutungsakzenten versehen werden können, muss uns auch bewusst werden, welchen Status Geschichten und Narrative bezüglich der Realität haben und in welcher Weise diesbezüglich Akzente gesetzt bzw. manipuliert werden können. Kurz: Es geht auch darum, zu erkennen, was die Stellschrauben beim politischen Storytelling sind.
•Auf der Basis einer solchen Kompetenz lohnt es sich dann, sich Gedanken über eine Ethik des politischen Storytelling zu machen. Denn Fake News stehen ja selten als bloße Fakten im Raum, sondern sind eingebettet in Geschichten und Narrative.
•Und schließlich geht es mir um ein Plädoyer dafür, dass die grundlegende Arbeit einer politischen Bewegung, Partei oder Gruppierung darin besteht, einen Weg in die Zukunft zu öffnen, was bedeutet, anschlussfähige Sinn-Narrative anzubieten. Wenn die politischen Parteien und Bewegungen der Mitte solche sinnstiftenden Zukunfts-Narrative nicht anzubieten wissen – und die meisten der etablierten Parteien in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern, tun dies zurzeit nicht – füllen rechtspopulistische Bewegungen mit ihren rückwärtsgewandten Narrativen das Vakuum.
Dieses Buch will dazu beitragen, über diese Zusammenhänge mehr Klarheit zu schaffen. Und es will natürlich auch Politiker und alle politisch Denkenden und Handelnden dazu anzuregen, die Ebene der Geschichten einer Gesellschaft wahrzunehmen und mit ihr zu arbeiten.
Geschichten, Erzählungen, Narrative:
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