Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe. Marcel Schwob
Marcel Schwob
Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe
Saga
Der Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe ÜbersetztJakob Hegner Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1896, 2020 Marcel Schwob und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726594430
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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DER ROMAN DER ZWEI
UND ZWANZIG LEBENSLÄUF
VORWORT
die geschichte als wissenschaft lässt uns über den Einzelmenschen im unklaren. Sie begnügt sich damit, die Umstände aufzuhellen, die ihn mit dem allgemeinen Geschehen verbinden. Sounterrichtet sie uns,daß Napoleon am Tagvon Waterloo unpäßlich war, daß die übermächtige geistige Tatkraft Newtons seiner unerschütterlichen Gefühlskargheit zuzuschreiben ist, daß Alexander betrunken war, als er den Klitus erschlug, und daß das Fistelgeschwür Ludwigs XIV. möglicherweise manche seiner Entscheidungen beeinflußt habe. Auch Pascal stellt seine Betrachtungen über die Nase der Kleopatra nur in einer Richtung an: wenn sie kleiner gewesen wäre, und ebenso über ein Sandkorn in der Harnröhre Cromwells. Alle diese Einzeltatsachen haben so viel Geltung, wie sie Einfluß auf die Ereignisse hatten oder insofern sie deren Gang vielleicht hätten abändern können. Sie sind wirkliche oder mögliche Ursachen. Sie gehören in das Gebiet der Wissenschaft.
Die Kunst widerstrebt den Allgemeinbegriffen, sie stellt nur Einzelwesen dar, will nur das Einmalige. Sie reiht nicht ein; sie reiht aus. Von uns aus gesehn, könnten unsere Allgemeinhegriffe den auf dem Mars üblichen gleichen, drei einander schneidende Gerade ergeben überall im Weltall ein Dreieck. Dagegen ein Baumblatt mit seinem eigenwilligen Nervengewebe, seinem Farbenspiel in Licht und Schatten, mit seiner Schwellung, vielleicht durch einen fallenden Regentropfen hervorgerufen, dem Andenken anden Stich eines Käfers, der silbernen Wegspur einer kleinen Schnecke, der ersten tödlichen Vergoldung, womit es der Herbst gezeichnet hat. Und nun suche man ein ihm völlig gleiches Blatt irgendwo innerhalb aller Wälder auf der Erde: ein unausführbares Unternehmen. Es gibt keine Wissenschaft von der Oberfläche eines Blattes, dem Netzwerk einer Zelle, der Schlängelung einer Ader oder etwa einer verschrobenen Gewohnheit, einer plötzlichen Umkehr des Herzens. Daß einer — und auf seine Weise — eine schiefe Nase hat, ein Auge höher als das andre, ein kräftiges Armgelenk; daß er zu einer bestimmten Stunde zu essen pflegt, und am liebsten Hühnerbrust, daß er Malvasier einem Château-Margaux vorzieht — das ist ohnegleichen in der Welt. Genau so gut wie Sokrates hätte wohl auch Thales TNΩΘΙΣEAϒTON sagen können; aber sein Bein hätte er sich im Gefängnis gewiß auf eine andre Art gekratzt, eh er den Schierlingsbecher leerte. Die Gedanken der großen Männer sind das allgemeine Erbgut der Menschheit: nur ihre Absonderlichkeiten bleiben ihr persönliches Eigentum. Ein Buch, das einen Menschen wiedergäbe mit allem, was an ihm regelwidrig ist, wäre ein Kunstwerk von der Art jener japanischen Holzschnitte, die das Bild eines ein einzigesmal zu einer einzigen Stunde erblickten Räupleins für alle Ewigkeit festhalten.
DieWerke der Geschichtschreibung schweigen über diese Dinge. In der rohen Stoffsammlung geschichtlicher Zeugnisse gibt es nicht viel einzigartige unnachahmliche Züge. Darin sind besonders die Lebensgeschichten der Alten unergiebig. Da sie nur das Gemeinwesen und die Grammatik schätzten, übermittelten sie uns von ihren großen Männern die Staatsreden und die Titel ihrer Bücher. Von keinem andern als von Aristophanes selbst erfahren wir, zu unserer Freude, daß er kahlköpfig war, und hätte die Stumpfnase des Sokrates nicht Anlaß zu literarischen Gleichnissen gegeben und seine Gewohnheit des Barfußgehns nicht zu seinen, alles Leibliche geringschätzenden Anschauungen gehört — wir besäßen auch von ihm einzig seine Untersuchungen über die Sittengesetze. Das Weibergeschwätz des Sueton ist streitsüchtige Gehässigkeit. Den Plutarch hat sein guter Geist mitunter zum Bildner gemacht; jedoch auch er verstand seine Kunst noch schlecht, er wäre sonst nicht auf seine,, vergleichenden Lebensbeschreibungen“ verfallen — als ob zwei in allen ihren Eigentümlichkeiten dargestellte Menschen einander jemals gleichen könnten! Wir sind also auf Athenäus angewiesen, auf Aulus Gellius, auf die Scholiasten und auf Diogenes Laërtius, der der Meinung war, er hätte so etwas wie eine Geschichte der Philosophie verfaßt.
In den neuern Zeiten hat sich das Gefühl für das Persönliche stärker entwickelt. Das Werk eines Boswell wäre vollkommen, hätte er nicht für notwendig erachtet, Johnsons Briefwechsel und etliche Abschweifungen über dessen Bücher darin unterzubringen. Die „Lebensläufe hervorragender Personen“ von Aubrey genügen schon eher. Aubrey hatte einen unverkennbaren Sinn für das Biographische. Es ist nur bedauerlich, daß der Stil dieses ausgezeichneten Geschichtspürers so sehr hinter seiner Auffassung zurückgeblieben ist. Andernfalls wäre sein Werk verwöhnten Leuten dauernd genießbar geblieben. Aubrey fühlt sich nirgends verpflichtet, das Eigentümliche seiner Personen den Allgemeinvorstellungen einzugliedern. Er begnügte sich damit, daß andre die von ihm behandelten Leute berühmt gemacht hatten. So und so oft weiß man lange Zeit nicht, ob er von einem Mathematiker oder einem Staatsmann, einem Dichter oder einem Uhrmacher sprieht. Dafüraber weist jeder von ihnen seine Besonderheit auf, die ihn für alle Zeiten von allen andern Menschen unterscheidet.
Der Maler Hokusai hoffte, als er hundertzehn Jahre alt war, endlich das Hochziel seiner Kunst zu erreichen. Dann, sagte er, würde jeder Punkt von seiner Hand, jede von ihm hingepinselte Linie lebendig sein. Lebendig, das heißt: einmalig. Nichts scheint einander mehr zu gleichen als Punkte und Linien: die Geometrie beruht auf dieser Voraussetzung. Dievollendete Kunst eines Hokusai aber stellt die Forderung auf, sie sollten völlig untereinander verschieden sein. So wäre auch die höchste Aufgabe des Lebensbeschreibers, das Bildnis zweier Philosophen, die ungefähr die gleiche Metaphysik vorgetragen haben, doch unendlich verschiedenartig zu gestalten. Aubrey aber, der einzig an den Menschen haftet, erreicht das Vollkommene trotzdem nicht, weil er die wunderbare Umwandlung des Ähnlichen in das Unterschiedliche, von der Hokusai träumte, nicht zu vollbringen verstand. Allerdings war Aubrey auch nicht hundertzehn Jahre alt geworden. Dabei bleibt er jedoch immer sehr schätzenswert, und er war sich der Bedeutung seines Werkes auch bewußt: „Ich entsinne mich,“ sagt er in seiner Einleitung zu Antony Wood, „eines Ausspruchs des Generals Lambert: ,Die besten Menschen sind bestenfalls nur Menschen‘—wovon man in meiner rohen und eilends geschaffenenSammlung mancherlei absonderliches Beispiel antreffen wird. Darum aber dürfen diese Verborgenheiten auch nicht eher als in etwa dreißig Jahren ans Licht der Öffentlichkeit. Wahrhaftig, der Verfasser wie auch seine Personen sollen nicht anders als wie Mispeln genossen werden, in bereits angefaultem Zustand.“
Bei Aubreys Vorgängern sind schon Spuren seiner Kunst zu entdecken. So erzählt uns zum Beispiel Diogenes Laërtius, Aristoteles habe auf dem Magen einen Lederbeutel warmen Öls getragen, und nach seinem Tode seien in seinem Haus eine Unmenge Tongefäße aufgefunden worden. Wir werden niemals erfahren, was Aristoteles mit all diesen Töpfen eigentlich gewollt hat. Das Rätselhafte daran ist nicht minder anziehend als etwa die Vermutungen, denen uns Boswell überläßt, was wohl Johnson mit den getrockneten Orangenschalen angefangen habe, die er in seinen Taschen zu tragen pflegte. In solchen Fällen übertrifft Diogenes Laërtius den unnachahmlichen Boswell um ein beträchtliches. Doch dergleichen Ergötzlichkeiten finden sich da nur selten, bei Aubrey hingegen in jeder Zeile. Milton, so berichtet er uns, „konnte das R nicht gut aussprechen“. Spenser „war ein kleiner Mann mit kurzgeschornen Haaren, einem schmalen Halskragen und kleinen Handkrausen.“ Barcley „lebte in England irgendwann ,tempore R. Jacobi‘! Er war dazumal schon ein Mann in vorgerücktem Alter, mit einem weißen Bart, und er trug einen Federhut, woran etliche Standespersonen Anstoß nahmen.“ Erasmus „aß nicht gern Fische, obzwar er aus einer Stadt des Fischhandels stammte“. Was den Bacon betrifft, so „wagte keiner der Diener, vor ihm in Stiefeln aus anderm als spanischem Leder zu erscheinen, denn er war sehr empfindlich gegen den Geruch von Kalbleder, das er nicht leiden konnte“. Der Doktor Fuller