Abheben. Werner Schuster

Abheben - Werner  Schuster


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denke erstmals ernsthaft über das Aufhören als Bundestrainer der deutschen Skispringer nach. Auf der Treppe der HS 109 von Pyeongchang.

      Die Pflicht ruft. Runter! Ich muss runter! Zu den Sportlern, zum Staff, zur Presse, zu den Verantwortlichen. Zuschauer sehe ich nur mehr wenige, die Koreaner haben nicht so viel am Hut mit Skispringen. Keine Nationalhelden – kein Interesse. Und diejenigen, die sich an die Schanze verirrt hatten, sind vermutlich durchgefroren frühzeitig nach Hause gegangen. Nur mehr der harte Kern an Protagonisten ist noch im Stadion. Kein Wunder, es ist ja schon nach Mitternacht und immer noch unglaublich kalt.

      Nach der kurzen Pause laufen die nächsten Minuten wieder im Zeitraffer ab. Gratulieren. Umarmen. Small Talk hier, Small Talk da. Keine Zeit für Tiefe. Man spult ein Programm hinunter und versucht, allem gerecht zu werden. Funktioniert wie ein Roboter. Ich versuche trotzdem den Moment, wo ich meinen Goldjungen endlich umarmen kann, zu genießen. Ich bin sehr stolz auf ihn! Aber der Moment ist kurz. Zu viele wollen jetzt etwas von ihm.

      Die Gespräche mit der Presse sind euphorisch. Erfolg »verkaufen« ist einfach. Alle freuen sich mit, und die kritischen Fragen bleiben aus. Jeder will ein Stück vom Kuchen. Schließlich mussten die deutschen Journalisten 24 Jahre auf diesen Moment warten. Um mich herum nicht nur Sieger. Die Polen lecken ihre Wunden und stellen die Regularität des Bewerbes infrage. Die Österreicher, die Slowenen, die Japaner, die Schweizer – alle gehen sie mit leeren Händen nach Hause. Ich versuche wieder, kurz innezuhalten, denn ich kenne auch diese Kehrseite der Medaille nur zu gut.

      »Kannst du bitte zu dem Herrn Bundespräsidenten kommen? Er möchte dir gerne persönlich gratulieren«, höre ich eine DOSB-Mitarbeiterin in meinem Rücken. Ich? Zum Bundespräsidenten? Präsident Steinmeier war durchgefroren, aber er hatte tatsächlich drei Stunden in der Kälte durchgehalten, und die Freude war ihm und seiner bibbernden Frau merklich anzusehen. Wahnsinn, was so ein Triumph für Wellen schlägt!

      Wenn abgebrochen worden wäre … Ich verdränge den Gedanken wieder.

      Materialkontrolle, zusammenpacken, Flower-Zeremonie, Dopingkontrolle. Das Stadion ist schon gespenstisch leer. Mit Glück ergattern wir noch einen Shuttle zu den Umkleidekabinen. »Hoffentlich schließen sie nicht ab und machen das Licht aus«, scherzt unser Teamarzt Mark Dorfmüller.

      »Das Deutsche Haus wartet«, sagt mir Florian Schwarz, unser Pressebetreuer. Es ist der erste Tag bei den Spielen, und Biathletin Laura Dahlmeier hat wenige Stunden zuvor ebenfalls Gold geholt. Doppelgold für Team Deutschland, was für ein Auftakt! Und wir Skispringer mittendrin. Ich starre ein letztes Mal auf die hell beleuchtete Schanze und denke kurz an »meinen« Moment auf der Treppe, aber da klopft mir schon Florian Schwarz auf die Schulter und macht mir klar, dass wir jetzt losmüssen.

      Überschwänglich ist die Stimmung im Deutschen Haus. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen und sind angesichts der Uhrzeit – es ist schon fast zwei Uhr morgens – erstaunlich wach. Sekt spritzt. Laute Musik. Gegröle. Feierlaune. Es wird getrunken, gelacht, gesungen. Unbekannte Menschen wollen mir gratulieren und ein paar Worte wechseln. Nach zehn Jahren als Gesicht des deutschen Skispringens kennen mich viele Leute und wollen ein Stück weit die Freude mit mir teilen. Stolz mache ich meine Runde, aber gleichzeitig verfolgt mich der Gedanke, was bei einem Abbruch des Springens gewesen wäre.

      Gold-Feier: Andi Wellinger und Laura Dahlmeier im Deutschen Haus

      Ich hole mir noch ein Bier, setze mich um fünf Uhr morgens alleine auf die Terrasse und starre in die Ferne. Zutiefst zufrieden nippe ich an meinem Getränk, unendlich dankbar für diesen Tag, und plötzlich ist es wieder da, das Gefühl der Leere. Es kommt mir etwas seltsam vor, im Augenblick des größten Triumphes meiner Trainerkarriere nicht voller Ekstase und Energie zu stecken. Ist das normal? War es das alles wert? Möchte ich das noch einmal erleben? Möchte ich etwas anderes machen?

      Zum Glück läuft mein Vertrag noch ein Jahr, bis 2019. Peking 2022 ist auf jeden Fall ganz weit weg!

       KAPITEL 1

      SICH SEINER WURZELN BEWUSST SEIN

      Kreuzungen im Leben: über Prägungen und Werte

       Freiheit mit viel Schnee – Meine Eltern – Heimat Mahdtalegg – Stams, was sonst – Internatserfahrungen eines Einzelkindes – Liss – Erste Erfolge – Matura, und jetzt? Auf dem Lkw des Bundesheeres – Muss ich jetzt echt studieren – Die Erfolge bleiben aus – Student Schuster und das neue Umfeld – Den V-Stil verschlafen und mit einer Verletzung bestraft – Von der Ersatzbank in den Weltcup – Übergang ins wirkliche Leben

      Es war einer dieser Wintertage in den Achtzigern im touristisch gut gefüllten, aber für mich beschaulichen heimatlichen Kleinwalsertal. Gut ein halber Meter Schnee war über Nacht gefallen, und ich musste in die Schule. Die Straße war noch nicht vollständig geräumt, aber ich war besessen von dem Gedanken, wieder mit dem Fahrrad zur Bushaltestelle zu fahren. Das war weder logisch noch vernünftig, aber spannend allemal.

      Ich hatte ein Klapprad, schwarz lackiert und aufgerüstet mit Stollenreifen – BMX Marke Eigenbau. Das sollte doch allwettertauglich sein und mich diese 500 Meter zur Bushaltestelle bringen – dem halben Meter Schnee zum Trotz. Meine Mutter hatte kurz versucht, mich davon abzuhalten, dann ließ sie mich fahren. Ich durfte immer meine eigenen Erfahrungen machen, und dafür bin ich dankbar!

      Es wollte nicht so recht vorwärtsgehen im tiefen Schnee. Kaum war ich außer Sichtweite unseres Hauses, musste ich absteigen und schieben. Eine Blöße wollte ich mir nicht geben. Niemand sollte mitkriegen, dass es beschwerlich war. Spaß hat es trotzdem gemacht. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, jeden Tag mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, und da lässt man sich von frischem Neuschnee nicht die Schneid abkaufen.

      Meine Familie hatte und hat eine kleine Vermietung von Privatzimmern und Ferienwohnungen. Einen Parkplatz mit fünf Stellplätzen. Schneeräumung war Familiensache. Die glich oft einer Sisyphusarbeit. Das Haus meiner Eltern steht an einer Hanglage, und zum Glück konnten wir den üppig vorhandenen Schnee in das Feld des Nachbarn, eines Landwirtes, entsorgen. Dort entwickelten sich ordentliche Plattformen, man muss schon fast sagen, natürliche Rampen, von denen man spektakuläre Sprünge in den Tiefschnee machen konnte. Manchmal stellte ich ein Sparschwein auf, und die Touristen am vorbeiführenden Wanderweg blieben stehen und konnten Sprünge bei mir »bestellen«. Auf Wunsch gab es einen Salto oder einen Bauchfleck zu sehen, und dafür warfen sie eine Mark in das Sparschwein.

      Erste Sprünge im Kleinwalsertal

      Ich liebte den Schnee. In meiner Kindheit gab es ihn noch üppig, und er kam verlässlich spätestens im Dezember, und auf über 1000 Meter Seehöhe ging er auch nicht weg vor April. Nach der Schule waren wir den ganzen Winter auf den Skipisten unterwegs. Als mir das Skifahren zu langweilig wurde, entwickelten sich aus dem Hüpfen vor Touristenpublikum ernst zu nehmende Sprünge. Mein Vater, ein Mann der Tat, baute mithilfe seines großzügigen Partners, eines Hoteliers, eine richtige Skisprungschanze.

      In kürzester Zeit hatte sich diese Freizeitbeschäftigung herumgesprochen, und wir waren eine Gruppe von mehr als 15 Kindern, die dankenswerterweise von meinem Vater, früher selber Skispringer, alle mitbetreut wurden. Wir nahmen an Wettkämpfen in Österreich, Deutschland und der Schweiz teil und waren binnen kürzester Zeit eine gefürchtete Truppe. Aufgrund der optimalen »Zutaten« Schnee, Schanze, Lift, fachgerechte Betreuung und freudvoll agierende Kinder entwickelte sich der SV Casino Kleinwalsertal in Windeseile zu einem Vorzeigeverein. Und das Schöne daran war: Wir haben diese Nachmittage nicht als Training wahrgenommen. Alles lief spielerisch ab. Dank der großzügigen Art meines Vaters und des Hoteliers,


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