Abheben. Werner Schuster

Abheben - Werner  Schuster


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machte richtig Spaß, und wir kamen gut voran. Bei Gregor musste ich manchmal innehalten, weil er technisch so ausgereift war und ich vor der Frage stand: Sollte man dem technischen Idealbild nacheifern oder Individualität zulassen?

      Ich war kein Traineranfänger mehr, und meine Theorien hatte ich mehrfach erprobt und erfolgreich angewendet. Ein junger Sportler mit einem derart hohen Grundniveau war mir bis zum damaligen Zeitpunkt noch nicht untergekommen, und ich wollte Gregor schließlich nicht schlechter machen. Oft bin ich wach im Bett gelegen und habe gegrübelt, ob ich weiter offensiv meinen Überzeugungen folgen oder eher defensiv das Vorhandene pflegen sollte. Ich spürte die Verantwortung und trug sie in einem unsichtbaren Rucksack mit mir herum.

      Schlussendlich entschied ich mich, weiterhin mutig und offensiv seine schon ausgezeichnete Technik weiter zu verfeinern und schreckte auch vor kleinen Veränderungen nicht zurück. Mit einer klaren Vision im Kopf versuchte ich, ihn mit geschickten und ausgeklügelten Maßnahmen, speziell das Material betreffend, durch die Pubertät zu führen. Er war ein kluger und interessierter Athlet und hinterfragte jeglichen Schritt. Mit Transparenz und Klarheit zog ich ihn auf meine Seite und trieb die Entwicklung voran.

      Zu Beginn der Wintersaison 2005/06 hatte Mario Innauer die Nase vorn, und wir standen nur noch drei Wochen vor der Junioren-Weltmeisterschaft in Kranj/Slowenien. Gregor, obwohl schon qualifiziert, haderte mit dem Rückstand und wurde ungeduldig. Er schob das Problem aufs Material und forderte Hilfe von mir. Er war ein schlanker Athlet und musste vergleichsweise kurze Skier springen, was sich als fehlende Tragfläche und Unterstützungsfläche im zweiten Flugdrittel bemerkbar machte. Ich hatte das Problem erkannt und schon die erforderlichen Schritte eingeleitet, forderte aber eine technische Verbesserung als Grundvoraussetzung ein. Nachdem er dies mehrmals trotzig ablehnte, kam es im Fernsehraum beim Videostudium zu einer härteren Auseinandersetzung, schlussendlich verließ er den Raum mit Tränen in den Augen.

      Wir machten gerade in Schonach Station, und sein Kumpel Mario Innauer dominierte den Alpencup nach Belieben. Ich dachte, ich hätte das Vertrauen von Gregor nach der Diskussion des Vortags verloren. Umso erstaunter war ich über sein strahlendes Lächeln beim Frühstück – er sendete Signale, das Besprochene und am Vortag noch abgelehnte technische Detail entschlossen umsetzen zu wollen. Sein erster Sprung war grandios, und er fand sich nur knapp hinter seinem Konkurrenten Innauer wieder, und obwohl sein zweiter Sprung nicht dieselbe Qualität hatte, war ich unheimlich stolz auf ihn. Wieder hatte er feuchte Augen, aber das Erlebte hat unser Vertrauensverhältnis noch einmal gestärkt, und die Junioren-WM konnte kommen.

      Mario Innauer war sich seiner sehr sicher und nahm immer seltener Hilfe von außen an, während Gregor mir vollends vertraute und die Kooperation Trainer–Athlet vorbildlich lebte. Gregor sprang wie von einem anderen Stern, hielt der Drucksituation stand, ließ sich in diesen emotional intensiven Momenten auch helfen und wurde Weltmeister. Mario belegte Platz sieben. Nachdem wir dann auch noch den Teamtitel gewonnen hatten, war ein neuer Star geboren. Gregor war Doppelweltmeister der Junioren mit 16 Jahren.

      Im darauffolgenden Sommer war die Trainingsgestaltung sehr schwierig, weil Gregor, gestärkt durch die Erfolge, immer besser und die Lücke zum restlichen Team immer größer wurde. Praktischerweise trainierte er immer noch bei mir, weil der Schulalltag sich schwer mit dem Rhythmus der Profis vereinbaren ließ. Immer öfter tauchte Nationaltrainer Alexander Pointner bei uns im Training auf, um sich ein Bild von Gregor zu machen. Er wollte ihn für den Sommer-Grand-Prix in Hinterzarten nominieren. Ich machte klar, dass ich dem nur zustimmen würde, wenn ich das Gefühl hätte, dass er unter die besten 15 kommen könnte. Schließlich war er erst 16 Jahre alt. Dass ein Nachwuchstrainer aufbegehrt, war neu im System und stieß Pointner sauer auf. Er pochte auf die Hierarchie, aber harrte der Dinge.

      Bei einem Trainingskurs im Juli war Franz Neuländtner, langjähriger Rennservice-Betreuer der Skifirma Fischer, vor Ort und beobachtete Gregor. Die Kluft zwischen ihm und dem restlichen C-Kader war wieder einmal groß, aber ich war trotzdem nicht vollends zufrieden. Ich erzählte Franz, dass man von oberster Stelle Gregor gerne zum Sommer-Grand-Prix mitnehmen würde und ich ihn nur unter den erwähnten Voraussetzungen freigeben wolle. Da schaute mich Franz verdutzt an und sagte: »Werner, wenn der so springt, dann kommt er locker aufs Podium in Hinterzarten.« Ungläubig nahm ich das zur Kenntnis und gab den Athleten frei. Franz sollte recht behalten. Gregor wurde mit 16 Jahren bei seinem ersten Auftritt bei den »Großen« Dritter und düpierte den Großteil der Weltklasse.

      Obwohl er kurz darauf in Courchevel sogar gewann, trainierte er im Herbst, dem Schulrhythmus geschuldet, wieder bei mir, und ich bekam das Vertrauen der Skiverbandsführung, Gregor auf den Winter vorzubereiten.

      Wieder entstand eine harte Diskussion mit Nationaltrainer Pointner, der Gregor unbedingt zum Weltcupauftakt in Kuusamo nominieren wollte. Ich argumentierte mit Unerfahrenheit und trainingstheoretischen Überlegungen. Zudem brachte ich die unsichere Wettersituation in Finnland ein und dachte, ich hätte mich durchgesetzt. Diesmal spielte Pointner aber die Hierarchiekarte aus und forderte vehement ein Einlenken von meiner Seite. Ich blieb trotzdem stur, denn mir war der Athlet ans Herz gewachsen, und ich hatte zu viel investiert, um seine Karriere unter fragwürdigen Bedingungen leichtfertig aufs Spiel zu setzen, und schlug als »Schiedsrichter« Sportdirektor Innauer vor. Dieser folgte glücklicherweise meiner Argumentation und ich gewann Zeit, Gregor in Lillehammer bestmöglich auf den Weltcupstart vorzubereiten. Nachdem auch eine letzte Feinabstimmung mit dem Skimaterial erfolgreich verlief, reiste ich entspannt nach Hause und freute mich schon auf das Weltcupspringen in Lillehammer, das ich mir zu Hause auf dem Sofa ansehen würde. Mein Job war erledigt.

      Gregor Schlierenzauer, mit 16 Jahren auf dem Gipfel

      Gregor Schlierenzauer belegte in Lillehammer die Plätze eins und drei und gewann bis zum Beginn der Vierschanzentournee fünf Weltcupspringen. Ich durfte einen talentierten jugendlichen Skispringer zwei Jahre formen und weiterentwickeln und mit 16 Jahren direkt in der Weltspitze abgeben. Das passiert nicht allzu oft in einer Trainerkarriere. Zudem konnte ich für mich verbuchen, immer den Athleten und die optimale sportliche und persönliche Entwicklung im Auge behalten und nicht die Eigen-PR in den Vordergrund gerückt zu haben.

      Die Medien stürzten sich auf den Jungstar, und es war interessant und zugleich befremdend zu sehen, wer sich alles zu Wort meldete und den Anspruch erhob, den entscheidenden Anteil zu Gregors Erfolg beigetragen zu haben. Im doch sehr familiären Skisprungzirkus sprach sich international jedoch schnell herum, wo die Wurzeln dieser Entwicklung lagen. Schließlich platzierten sich in Bischofshofen beim Tourneeabschlussspringen, das Gregor gewann, mit Arthur Pauli und Mario Innauer zwei weitere Jungs aus unserer Trainingsgruppe in den Top 15.

      Mitte Januar 2007 klingelte mein Telefon, und das Display wies eine Schweizer Telefonnummer aus. Am anderen Ende der Leitung war Gary Furrer, der Sportchef der Schweizer Skispringer. Er erzählte mir, dass der aktuelle Nationaltrainer Berni Schödler am Ende des Jahres sein Amt ruhend stellen werde und sie an mir als Nachfolger interessiert wären. Ich fühlte mich geschmeichelt, lehnte aber dankend ab. Ich hatte eine junge Familie und fühlte mich als Nachwuchstrainer in Stams privilegiert und pudelwohl. Furrer meinte, er würde sich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal melden.

      Im März fuhren wir mit den restlichen Nachwuchssportlern meines Teams zur Junioren-WM-Vorbereitung nach Norwegen, als plötzlich wieder mein Handy mit der inzwischen bekannten Schweizer Nummer läutete. Gary Furrer wiederholte sein Anliegen, mich als neuen Cheftrainer zu gewinnen, und schlug ein Treffen mit mir vor. Ich war verdutzt ob der neuerlichen Offerte und musste erst einmal durchatmen. Schließlich war Doppelolympiasieger Simon Ammann nach einer längeren Durststrecke gerade frischgebackener Weltmeister in Sapporo geworden, und zudem gab es in diesem Team mit Andreas Küttel einen weiteren absoluten Weltklassespringer. »Die meinen es wirklich ernst«, schoss es mir durch den Kopf.

      Zum ersten Mal hielt ich inne und überlegte ernsthaft, ob ich diese Möglichkeit leichtfertig ein zweites Mal ausschlagen konnte. Ich war 37 Jahre alt, hatte durch die Entwicklung von Gregor und dem Rest der Mannschaft das Selbstvertrauen, dass meine Theorien in der Praxis greifen, und fühlte mich voller


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