Mond über Eikaberg. Torill Thorstad Hauger
Spuren von Schlägen auf den Schädel deuteten darauf hin, daß der Mann eines gewaltsamen Todes gestorben war. Sein Alter wurde auf um die Dreißig angesetzt.
Das Sonderbare am Begriff Zeit tauchte in ihren Gedanken auf. Es ist üblich, daß wir denken, Zeit wäre etwas, das wir nicht anhalten, nicht zurückdrehen und nicht vorstellen können. Aber stimmte das? Wie oft hatte sie schon Vergangenheit und Gegenwart in gewisser Weise gleichzeitig erlebt. Ein merkwürdiges Gefühl.
Wieder auf dem Ausgrabungsfeld zurück, arbeitete sie einige Stunden intensiv; als jedoch der Tag zu Ende war, zog sie sich schnell um und ging den schmalen Pfad hinauf, der zur Haltestelle am St. Hallvards Platz führte. Normalerweise unterhielt sie sich immer noch eine Weile mit den anderen, bevor sie nach Hause ging, aber diesmal war sie auffallend still. Der Bus brachte sie die steilen Hügel hinauf, fast ganz bis auf die Spitze. Es war praktisch, hier am Ekeberg zu wohnen, mit einem nur so kurzen Weg zum Ausgrabungsfeld.
Daheim angekommen, hatte sie das Gefühl, eine ganze Erdschicht von Gamleby unter den Fingernägeln zu haben. Ihr Haar war steif vom Staub. Also ließ sie sich in die Badewanne gleiten und das Wasser um ihren Körper schwappen. Dann zog sie sich bequeme Sachen an und ging wie üblich zum Bücherregal, um eine der Sagas herauszuholen. Sie kannte sie fast alle auswendig, war aber immer wieder überrascht, daß sie sich oft wie ein moderner Roman lasen.
Plötzlich war leise Musik aus der Wohnung über ihr zu vernehmen, sie stand auf und trat ans Fenster, um zur Bucht hinüberzusehen, wie sie es immer abends tat. Das Meer war ganz glatt und dunkelblau. Die Wolken führten dort oben am Himmel Krieg miteinander, es war wie im Draumkved, einem mittelalterlichen Lied, in dem die Heere der Schwarzen und der Weißen erbittert miteinander kämpfen, bis das Heer der Weißen siegt. Die mittelalterliche Stadt lag dort unten verborgen in der Finsternis des Vergessens.
Lange blieb sie am Fenster stehen und blickte zum Himmel hinauf, bis die Wolken plötzlich hell und silbern wurden. Die Nacht sank herab, und der Vollmond stieg am Himmel auf, groß und glänzend, mit einem geheimnisvollen Gesicht.
Wenn der Vollmond schien, konnte sie meist nicht schlafen. Das war schon immer so. Die Gedanken wurden in dem flimmernden Licht von der Phantasie bunt gefärbt, zogen auf geheimen Wegen in mondbeleuchtete Wälder. Bei Vollmond entfalteten sich alle kreativen Kräfte.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, öffnete die Schublade und zog einen Bogen Papier heraus. Erst heute hatte sie eine Schreibfeder und Tinte gekauft. Und teures, schönes handgeschöpftes Papier.
Der Mond stieg immer höher und ließ Silberstreifen durchs Fenster gleiten. Sie tauchte die Feder ins Tintenfaß. Die Tinte war wie ein blauer Fluß, ihr kam in den Sinn, daß die schreibenden Frauen in den Klöstern des Mittelalters so dagesessen haben mußten und genau wie sie von Freude erfüllt gewesen sein mußten. Eine mittelalterliche Ballade fiel ihr ein. Der Vollmond vor dem Fenster leuchtete ganz intensiv. Langsam hob sie die Feder ...
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