Das unheimliche Haus des Herrn Pasternak. Rosemarie Eichinger
etwas gehört hatte.
Vielleicht war der Mann ja bis zum Kragen mit bösem Zauber angefüllt oder er betrieb ein Labor, wo es brodelte und zischte, ein Labor zum Giftbrauen und Toteerwecken.
Oder er wollte den Kater essen, weil er kein Geld hatte und sich kein ordentliches Essen leisten konnte. Das weiße Kaninchen der alten Frau Schelling soll er mit einem Netz gefangen und ihm dann den Hals umgedreht haben. Das hatte angeblich irgendjemand irgendwann mit eigenen Augen beobachtet. Womöglich zog er dem Kater aber auch das Fell ab, um sich warme Pantoffeln daraus zu machen, weil er immer kalte Füße hatte.
Ein Vampir könnte dort drüben hausen, eine Mumie oder ein Zombie. Alles Mögliche tauchte in den Geschichten auf. Vermutungen, Gerüchte und Geheimnisse, die nur hinter vorgehaltener Hand und flüsternd weitergegeben wurden. Und Anabel kannte sie alle. Wie jedes andere Kind in der Welt, die an den verwitterten Zaun grenzte. Also musste sie jetzt eine Entscheidung treffen.
Denn wenn nun das mit den Haustieren stimmte? Wenn der unheimliche Nachbar flauschige Pantoffeln wollte oder ihm der Sinn nach Katzengulasch stand? Dann hatte Oskar ein Problem. Das würde auch erklären, warum der dumme Kater überhaupt in dem Kellerfenster verschwunden war. Wenn sich dieser Pasternak tatsächlich von den Haustieren seiner Nachbarn ernährte, hatte er das Tier bestimmt mit einem Köder angelockt. Damit er wieder einmal einen schmackhaften Braten machen konnte oder eine große Schüssel Eintopf.
Und wenn Oskar ein Problem hatte, dann hatte auch Anabel eines. Wer wollte schon, dass seine Katze vom Nachbarn gefressen oder zu weichen Fellpantoffeln verarbeitet wurde? Also ging sie vor ihrem Fenster auf und ab und kaute an ihren Fingernägeln. So, wie sie das immer tat, wenn sie nervös war.
Anabel überlegte fieberhaft. Sollte sie die Polizei rufen? Den Tierschutzverein? Da müsste sie schon Beweise für die ungeheuerlichen Essensgelüste des Nachbarn vorlegen können. Hätte sie erst einmal diesen Beweis, nämlich Oskareintopf, wäre es allerdings zu spät.
Sie konnte natürlich zu ihren Eltern gehen, ihnen sagen, was passiert war. Doch was würde das bringen?
Ihre Mutter war ja von Anfang an gegen Oskar gewesen, weil Oskar ein Tier war und Tiere Dreck machten. Sie hatten Haare, die sie überall verloren. Auf Sofas, im Bett, auf Kleidung und im Pudding. Ihre Mutter würde bestimmt keine Hilfe sein. Da war sich Anabel sicher. Am Ende schickte sie diesem Pasternak noch ein raffiniertes Rezept für Gulasch. Gerade so, wie sich das unter guten Nachbarn gehörte.
Und ihr Vater? Ihm war es ja egal gewesen, ob eine Katze ins Haus kam oder nicht. Er nahm eigentlich kaum Notiz von Oskar. Wahrscheinlich würden ihre Eltern nicht einmal von ihrer Zeitung aufschauen. Die beiden ließen sich nur sehr ungern stören, vor allem nicht beim Zeitunglesen.
Da konnte Anabel sich langwierige Erklärungen gleich sparen. Sie musste wohl ihren gesamten Piratenmut zusammennehmen und selber zu diesem Pasternak hinübergehen. Einfach so. Gleich im Pyjama. Hinübergehen, anklopfen und hoffen, dass es Vampire und Zombies nur in Schauermärchen gab.
Schließlich raffte sie sich auf und schlich die Stufen hinunter; vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Auch das geringste Geräusch musste vermieden werden, damit ihre Mutter nicht aufwachte. Auf dieser Holztreppe war das keine einfache Aufgabe. Sie knarrte wie in einem alten Gruselfilm. Glücklicherweise wusste Anabel genau, wo sie ihre Füße aufsetzen musste, um den knorrigen Holzbrettern auch nicht das kleinste Ächzen zu entlocken.
Auf Zehenspitzen kam sie endlich unten an und trieb sich zur Eile an. Wenn sie nämlich Zeit hatte, über die ganze Sache nachzudenken, ließ sie es am Ende doch noch bleiben. Damit hätte ihre Mutter dann recht behalten. Anabel hatte ihre Stimme noch im Ohr: „Du bist neun“, hatte ihre Mutter gesagt. „Mit neun ist man noch nicht alt genug, um so eine große Verantwortung zu tragen und sich um ein Tier zu kümmern.“
Also würde Anabel sich jetzt kümmern und die Verantwortung tragen. Komme, was da wolle. Was sie nämlich gar nicht leiden konnte, war der „Ich-habs-dir-ja-gesagt-Blick“ ihrer Mutter. Dabei zog sie bedauernd die Augenbrauen hoch, obwohl sie gar nichts bedauerte, weil es einfach toll war, recht zu haben, wenn man selbst diejenige war, die recht hatte.
Anabel warf einen vorsichtigen Blick ins Wohnzimmer. Vielleicht war doch schon jemand aufgestanden? Die Luft war rein, also flitzte sie vorbei, durch die Küche und hinein in die Gummistiefel, die neuen grünen mit den Fröschen drauf.
Und weil man nicht mit leeren Händen bei jemandem ankommen konnte, der deine Katze fressen will, stibitzte sie kurzerhand die Salami ihres Vaters aus dem Kühlschrank. So eine Salami im Tausch für Oskars Leben war schließlich nur ein winziger Preis.
Ein kleiner Bruder ist um nichts besser als ein Kater
Anabel zögerte, als sie den Kühlschrank öffnete. Ihre Finger zitterten leicht. Bis jetzt hatte sie noch nie etwas an sich genommen, was ihr nicht gehörte. Andererseits – sie setzte ihre Augenklappe auf – musste sie als Piratin machen, was eine Piratin eben so machte. Es war dann ja gewissermaßen ihre Arbeit, Dinge an sich zu nehmen, die ihr gar nicht gehörten. Als Anabel die Kühlschranktür wieder schloss, fiel ihr die Salami vor Schreck beinahe aus der Hand. Sie zog die Augenklappe wieder vom Kopf und steckte sie in die Tasche zurück.
„Das ist Papas Wurst“, stellte Jonas fest. Seine Stimme klang rau, in den Augenwinkeln klebte noch der Schlaf, die Haare standen wüst vom Kopf ab.
Das Mädchen seufzte. Sie seufzte oft, wenn es um ihren kleinen Bruder ging. Weil kleine Brüder manchmal eine regelrechte Plage waren. Erst hatte er nächtelang durchgeschrien, dann alles angefasst, was er in die Finger bekommen hatte, und neuerdings lief er ständig hinter seiner großen Schwester her. Wenn sie gar nicht damit rechnete, stand er plötzlich da, als wäre er gerade aus dem Boden gewachsen.
„Ich weiß, dass es Papas Wurst ist“, schnauzte Anabel ihn an.
„Was tust du damit?“, fragte Jonas.
„Geht dich gar nichts an.“
„Ach ja?“
„Ja“, bekräftigte Anabel. „Geh wieder ins Bett!“
„Ich bin aber nicht müde“, maulte der kleine Junge.
„Egal. Geh trotzdem ins Bett!“
„Nein!“, erwiderte Jonas und stampfte mit dem Fuß auf.
„Doch!“
„Nein!“
Anabel schloss die Augen. Das konnte jetzt ewig so weitergehen. Sie wusste das. Jonas hörte genauso wenig auf sie wie Oskar.
Also gab sie auf. Als kluge Piratin wusste man, wann man den Rückzug antreten musste. Würde sie jetzt nicht nachgeben, würde der kleine Knirps zu heulen beginnen, die Eltern kämen angerannt und Oskar landete im Kochtopf. Vielleicht waren ja zwei Kinder besser als eines, dachte sie. Vier traurige Kinderaugen anstelle von zwei. Die konnten auch einen alten mürrischen Mann erweichen, der sich hinter Vorhängen verbarg.
„Na gut“, sagte Anabel, auch wenn ihre Stimme nicht danach klang, als wäre es tatsächlich gut. „Du kannst mitkommen“, erlaubte sie ihm.
„Wohin denn?“, wollte Jonas wissen.
„Zum Nachbarn“, sagte Anabel. „Aber du musst ganz leise sein.“
Jonas nickte eifrig.
„Ich verspreche es“, sagte er und hob die Hand zum Schwur.
Anabel presste die Lippen zusammen. Sie wusste, wie schnell der Schwur vergessen war, wenn irgendetwas dazwischenkam. Aber dieses Risiko musste sie eingehen. Für weitere Diskussionen fehlte ihr einfach die Zeit. Also trippelte Jonas hinter seiner großen Schwester her.
„Was willst du denn mit der Wurst?“, fragte er, während Anabel ihn in seine Gummistiefel stopfte.
Sie schob Jonas