Frost & Payne - Die mechanischen Kinder Die komplette erste Staffel. Luzia Pfyl

Frost & Payne - Die mechanischen Kinder  Die komplette erste Staffel - Luzia Pfyl


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verhärtete sich. Sie schob den Umschlag zurück zu Michael. »Nein. Du weißt, dass ich keine solchen Aufträge mehr mache.« Sie hatte hart genug dafür gekämpft, dass Madame Yueh und die Organisation sie hatten gehen lassen. »Ich bin draußen.«

      »Ja, ich weiß.« Michael sah sie eindringlich an. »Aber wir wissen auch, dass du Geld brauchst. Sie möchte sich erkenntlich zeigen und will dich unterstützen.«

      Frost schnaubte und verschränkte die Arme. Unterstützen, dass sie nicht lachte. Sie wusste genau, was ihre Ziehmutter mit diesem Auftrag bezweckte. Frost würde in ihrer Schuld stehen. »Ich habe Klienten. Die Agentur läuft gut«, sagte sie nicht sehr überzeugend, worauf Michael lächelte.

      »Sieh es doch mal so, Lydia: Du gehörst immer noch zur Familie, und Familienmitglieder lässt man nicht einfach im Stich.« Seine Stimme wurde weich. »Wir vermissen dich. Mutter fragt ständig nach dir und hat mir schon mit der Bratpfanne gedroht, sollte ich dich nicht bald wieder zum Essen einladen.«

      Frost musste bei der Vorstellung unweigerlich grinsen. Sie musste zugeben, dass sie Michael, seine Familie und all ihre Freunde in der Organisation ebenfalls vermisste. Aber sie hatte sich nun mal dazu entschlossen, ihre eigenen Wege zu gehen. Sie wollte nicht wieder zurück. Sie wollte nicht wieder das Werkzeug der Dragons sein.

      »Was ist das für ein Auftrag?«, fragte sie dann doch noch. Sie war neugierig, mit was Madame Yueh sie ködern wollte.

      Michael zuckte mit den Achseln und schob ihr den Umschlag wieder hin. »Lies selbst.«

      Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie den Umschlag an sich und riss ihn auf. Auf der Karte darin prangten chinesische Schriftzeichen in pechschwarzer Tusche. Frost brauchte eine Weile, bis sie alle Zeichen entziffern konnte. »Wer ist dieser Nelson Bingham?«

      »Ein sehr einflussreicher Geschäftsmann, handelt hauptsächlich mit Seide und Kunst.«

      »Hier steht, ich soll ihm ein wertvolles Buch oder Manuskript entwenden.«

      Michael nickte erneut. »Einen Folianten, um genau zu sein. Das Buch war seit Generationen im Besitz der Yueh-Familie, doch es wurde gestohlen. Mr. Bingham hat es vor ein paar Tagen auf dem Schwarzmarkt ersteigert. Wir wollen, dass du es ihm abnimmst.« Er zog ein Lichtbild aus der Innentasche seines Mantels und reichte es Frost. Es zeigte den Folianten. »Möglichst bald. Es ist noch mindestens eine weitere Partei an dem Folianten interessiert, soweit wir wissen. Ein Unbekannter versucht seit Jahren vergeblich, ihn den Yuehs abzukaufen. Jetzt, wo das Buch außerhalb unseres Einflussbereichs ist, müssen wir schnell handeln.«

      »Was springt dabei für mich raus? Warum sollte ich den Auftrag deiner Meinung nach annehmen?«, fragte sie, während sie das Bild betrachtete, herausfordernd. Michael setzte sein gewinnendstes Lächeln auf, dann nannte er ihr eine Summe. Frost hob die Augenbrauen. »100 Pfund?« Das war sehr viel Geld. Damit wären ihre Sorgen für die nächsten zwei Monate aus der Welt geschafft. Bis dahin hätte sie bestimmt auch wieder Klienten.

      Nein, sie hatte hart für ihre Agentur und ihre Selbstständigkeit gekämpft. Sie war nicht käuflich.

      »Miss Frost?«

      Frost und Michael schauten gleichzeitig auf. Helen stand etwas schüchtern im Türeingang und zog soeben ihren Mantel an. »Kann ich noch etwas tun, Miss? Ich würde sonst nach Hause gehen.«

      »Nein, alles bestens. Danke, Helen. Geh nach Hause, bevor wir noch eingeschneit werden. Bis morgen dann?«

      Helen nickte. Frost lächelte und schaute ihr hinterher, als sie die Agentur verließ und im Schneegestöber hinter dem Schaufenster verschwand.

      Sie würde es nicht übers Herz bringen, sie zu entlassen, weil sie sich keine Haushälterin mehr leisten konnte. Helen konnte nichts dafür, dass sie die Agentur nicht auf die Reihe brachte.

      Frost starrte die Karte an und seufzte dann. »Na schön, ich mach es. Aber nur dieses eine Mal. Richte das Madame Yueh aus.

      Als Michael gegangen war, legte sich Stille über Frosts Büro. Nur das regelmäßige Schlagen der Pendeluhr in der Ecke und das Rattern der Straßenbahn draußen vor dem Schaufenster waren zu hören.

      Frost rieb sich die Nasenwurzel. Sie bekam Kopfschmerzen. Sie hatte kein gutes Gefühl bei dem Auftrag, auch wenn es lukrativ für sie war und sie die Agentur behalten konnte.

      Sie musste das Orakel befragen. Frost stand auf, ging zum hintersten Bücherregal und nahm das I Ging aus den Reihen. Es war ein großes, uraltes Buch. Sie hatte das I Ging von ihrer Ziehmutter bekommen, als sie alt genug gewesen war, um es zu verstehen und selbst anzuwenden. Das Orakel wurde seit über zweitausend Jahren verwendet und galt als einer der ältesten chinesischen Texte. Frost konnte zwar die Feinheiten der Sprache nicht vollständig verstehen, doch seit sie eine englische Übersetzung des Textes gefunden hatte, benutzte sie es regelmäßiger.

      Sie atmete tief durch und konzentrierte sich auf die Frage, die ihr immer wieder durch den Kopf ging. Was soll ich tun? Sie wollte nicht zurück in die Organisation, aber sie konnte Michaels Auftrag unmöglich ablehnen. Sie hatte ihm ihre Zustimmung gegeben.

      Sie nahm drei chinesische Münzen und warf sie so lange, bis sie alle Striche des Hexagramms beisammenhatte. Dann schlug sie das I Ging auf.

      »Hm, interessant«, murmelte sie, als sie bei den richtigen Linien angelangt war und die Übersetzung konsultiert hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie die Antworten, die das Orakel ihr gegeben hatte, deuten sollte. Es sagte ihr, das eine zu tun, wobei sie eigentlich auch das andere tun könnte. Zukunft ungewiss. »Das hilft heute also auch nicht.« Frost schlug das Buch wieder zu und legte es zurück an seinen Platz im Regal. Manchmal blieben die Antworten, die das I Ging einem gab, kryptisch. Vielleicht hätte ihr ein Gelehrter, der sich seit Jahren mit dem Text auseinandersetzte, mehr dazu sagen können, doch der Aufwand war ihr stets zu groß erschienen. Sie hatte sich nie tiefer mit dem Buch befassen wollen. Das Ritual allein, es zu befragen, genügte ihr. Auch wenn es oft frustrierend endete.

      Die Pendeluhr schlug zweimal. Frost starrte hinaus in das Schneegestöber, das London immer mehr in eine weiße Decke hüllte. Sie musste beginnen.

      Michael Cho wartete vor den privaten Räumlichkeiten von Madame Yueh darauf, dass man ihn einließ. Er hatte um eine Audienz gebeten, nachdem er den Auftrag an Lydia überreicht hatte. Ihm waren Zweifel an der Richtigkeit der Sache gekommen.

      Die rotlackierte Flügeltür wurde von innen lautlos geöffnet. Michael trat in den von Lampions und Kerzen erhellten Raum. Das Wandbild zu seiner Rechten stach ihm sofort ins Auge. Ein Meisterwerk. Als Lydia und er noch Kinder gewesen waren, hatten sie stundenlang davorgesessen und versucht, alle Details zu erkennen.

      Madame Yueh saß auf ihrem Stuhl vor dem Parawan auf dem Podest, den Gehstock zwischen die Knie geklemmt, und schaute Michael aus scharfen Augen an. Sofort senkte Michael den Kopf und verbeugte sich respektvoll. Der Geruch der Räucherstäbchen vom Altar in der Ecke stach ihm in die Nase.

      »Du wolltest mich sprechen, Michael Cho?« Die Stimme der Patriarchin hörte sich an wie trockenes Laub, doch ihre Worte waren klar wie ein Bergbach.

      »Ich habe Zweifel, Mutter«, sagte Michael und benutzte dabei die förmliche Anrede für Mutter. Madame Yueh war die Mutter der Organisation. Er trat näher. »Die Sache mit Lydia …«

      Der Blick der Greisin schien ihn zu durchdringen, sie sagte kein Wort. Michael presste die Lippen aufeinander. Er wollte Lydia verteidigen und Madame Yueh bitten, sie zu verschonen, doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Lydia war nun eine Außenseiterin, weil sie die Organisation verlassen hatte. Niemand hatte sie gehen lassen wollen, doch Lydia hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt.

      Michael befürchtete nur, dass Lydia diesmal zu weit gegangen war. Außenseiter wurden nicht geduldet, schon gar nicht, wenn sie so viel wussten wie Lydia.

      »Willst du das Erbe deines Vaters antreten, Michael?«

      Michael schaute


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