Zen-Lehren der Teemeister. Nicolas Chauvat

Zen-Lehren der Teemeister - Nicolas Chauvat


Скачать книгу
der umgebenden Natur, die ihnen sehr am Herzen liegt und in ihren Augen unerschöpfliche Lehren bereithält. Die festgelegten, unablässig wiederholten Gesten, das an Moosgärten erinnernde Grün des Tees, eine behutsam in eine exquisite Vase gestellte Blume, das Kosten eines kleinen Gebäckstücks, dessen Form und Farben auf die Veränderungen der Natur im Lauf der Jahreszeiten anspielen – das gesamte Zeremoniell ermöglicht allen, die daran teilhaben, sich selbst zu vergessen und ganz in den gegenwärtigen Moment einzutauchen. Um die Meditation der Teilnehmer zu leiten, wird eine Kalligrafie an der Wand angebracht. Oft enthält sie die Lehre eines großen japanischen oder chinesischen Zen-Mönchs.

      Im feudalen Japan wurde die Teezeremonie oft von Adligen und Kriegern praktiziert. Die Zen-Weisheit, die sie vermittelt, brachte ein wenig Harmonie in eine Gesellschaft, die es bitter nötig hatte. Mithilfe der Zeremonie konnten die Praktizierenden verstehen, dass es unmöglich ist, mit anderen gut auszukommen, solange man keine aufrichtige Beziehung zu sich selbst hat und nicht mit sich im Einklang ist. Das vorliegende Buch basiert auf der Übersetzung alter chinesischer und japanischer Texte, die Teemeister auch heute noch verwenden, um ihr Wissen an ihre Schüler weiterzugeben. Diese Lehren, die Poesie und Philosophie in sich vereinen, können der Welt aufs Neue Zauber verleihen. Sie sind echte Einladungen zur Kontemplation und ermöglichen uns, wieder zu uns selbst zu finden.

      Mit diesem Buch möchte ich Sie einladen, Ihren Geist immer wieder mal für einige Minuten auf Reisen gehen zu lassen. Es ist mit seinen kurzen Texten eine ideale Lektüre für zwischendurch. Jede Zen-Unterweisung wird von einer Übung begleitet, damit die darin enthaltene zeitlose Weisheit besser umgesetzt werden kann. Die Qualität unseres Lebens hängt vor allem von der Qualität unserer Gedanken ab. Schon nach wenigen Tagen werden Sie, liebe Leserinnen und Leser, merken, dass sich die Art, wie Sie denken und die Welt wahrnehmen, wirklich verändert.

image

      1. Sich unnötig sorgen

      Allein in der Dunkelheit seiner Kammer, wird ein Mönch vom Wind wachgehalten, der heulend um die einsame Hütte fegt. Plötzlich ertönt vom Dach her ein ohrenbetäubendes Prasseln. »Der lange Winterregen ist wieder da«, klagt der Mönch und kauert sich unter seinen Decken zusammen. Während er in dieser unbequemen Haltung allmählich einschläft, wird sein Geist von düsteren Gedanken gequält. Frühmorgens, als endlich wieder Stille eingekehrt ist, erhebt sich der Mönch mühsam, sein Körper nach unruhigem Schlaf ganz erstarrt. Zögernd angesichts der Vorstellung, sich der klammen Eiseskälte der umgebenden Natur auszusetzen, ringt er sich dazu durch, die Tür seiner Hütte zu öffnen. Bei dem Anblick, der sich ihm bietet, leuchtet sein Gesicht auf. Der Weg zu seiner Bleibe ist von unzähligen goldgelben und orangefarbenen Blättern bedeckt. Nicht den Regen hatte er gehört, sondern das Geräusch dieser Blätter, die der Herbstwind auf sein Dach wehte. Die Kälte, die ihm die ganze Nacht Sorge bereitet hatte, war nur ein Hirngespinst seiner Fantasie.

      Das Erwachen besteht darin, die Tür unseres Herzens zu öffnen, um zu erkennen, dass unsere Ängste sich auf Hirngespinste gründen. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, gegen sie anzukämpfen: Wenn wir ihnen mutig ins Auge sehen, verschwinden sie ganz von selbst, denn sie sind dann der einzigen Macht beraubt, die sie über uns hatten – der Unwissenheit.

      »NACH EINER GUTEN TASSE TEE

      KOMMT MEIN GEIST ZUR RUHE

      UND ICH KANN DIE ESSENZ ALLER

      DINGE (ALLER WESEN) BETRACHTEN.«

       ANGST DURCH VISUALISIEREN VERRINGERN

      Wenn Sie nachts nicht schlafen können, weil Sie zum Beispiel befürchten, dass ein bestimmtes Ereignis in näherer Zukunft eintritt, machen Sie folgende Übung:

      Versuchen Sie sich daran zu erinnern, wie Sie sich früher einmal wegen etwas gequält haben, das am Ende überhaupt nicht eingetreten ist. Das wird Ihnen helfen zu erkennen, dass die Angst häufiger auf Ihrer Vorstellungskraft beruht als auf realen Fakten.

      Stellen Sie sich so genau wie möglich vor, auf welche Weise das Ereignis, das Ihnen gerade Angst macht, sich zum Guten wendet und letztendlich gar nicht so schlimm ist, wie Sie angenommen hatten. Dieser bewusste Umgang mit dem Warten auf das gefürchtete Ereignis ermöglicht Ihnen, sich geistig und körperlich zu schützen, damit Sie Ihr tägliches Leben besser genießen können.

image

      2. Glück im Unglück finden

      Ist der Winter vorüber, schmücken sich die Bäume, die tot zu sein schienen, endlich mit farbenfrohen Blüten. Die Jahreszeit des Schnees lehrt uns Geduld, doch der Frühling macht uns durch seinen vergänglichen Zauber bewusst, wie kurzlebig alles ist. Kaum hat der Frühling uns in Begeisterung versetzt, prasselt schon ein nächtlicher Regen heftig auf die Landschaft herab und schwemmt die zarten Blütenblätter fort. Bei Tagesanbruch sind die Bäume wieder ihres Zaubers beraubt. Obwohl die Betrachter das Naturschauspiel gern noch einige Tage bewundert hätten, ist dieser Regenschauer gar nicht so zerstörerisch, wie es scheint. Die Blüten sind nicht verschwunden. Sie strömen nun mit dem Fluss, der die Nachbarstadt durchquert, und erfüllen die Gassen mit ihrem zarten Duft.

      So wie es geschehen kann, dass ein Dichter sieht, wie der Gegenstand seiner Kontemplation von einem plötzlichen Regen hinweggefegt wird, beruht unser Glück auf vergänglichen Dingen. Ein unvorhersehbares Ereignis kann sie uns in nur einem Augenblick entreißen. Der Weise lässt sich nicht von unerwarteten Ereignissen in seinem Leben peinigen.

      Wer kann schon mit Gewissheit sagen, ob ein Geschehnis positiv oder negativ ist? Nur die Zukunft wird es zeigen. Das Geheimnis der inneren Ruhe liegt in der Fähigkeit, die Schönheit in allen Dingen wahrzunehmen, selbst in dem, was ganz und gar unerträglich erscheint. Die Blüten sind tot, ihr Duft kann sich jedoch endlich in der Stadt frei entfalten.

       PROBLEME IN CHANCEN VERWANDELN

      Versuchen Sie sich an ein früheres Ereignis aus Ihrem Leben zu erinnern, das Ihnen damals zwar als etwas sehr Negatives erschien, sich im weiteren Verlauf aber als günstig erwies und Ihre Zukunft positiv beeinflusst hat.

      Wenn etwas in Ihrem Leben wie eine Niederlage oder ein Anzeichen drohenden Missgeschicks wirkt, stellen Sie sich vor, was Sie tun könnten, damit sich dieses Ereignis in eine günstige Gelegenheit mit positiven Auswirkungen verwandelt.

image

      3. Berühmtheit erlangen, ohne Wert darauf zu legen

      Ganz allein mitten in der Landschaft, abseits vom Trubel des Alltagslebens, erwacht ein Pfirsichbaum aus seinem Winterschlaf. In der Stille eines Frühlingsnachmittags öffnen sich plötzlich seine Blüten. Sie streben nicht nach Ruhm und Ehre – sie gehorchen nur ihrer Natur. Dennoch bleiben die wenigen Menschen, die daran vorbeikommen, angesichts solcher Schönheit und Zartheit hingerissen stehen. Und nur wenige Tage später finden sich schon Besucher aus der ganzen Umgebung ein, um das Schauspiel zu bestaunen. Das Kommen und Gehen dieser Bewunderer hat einen regelrechten Pfad durch die Felder geschaffen und der majestätische Pfirsichbaum findet sich nun, ohne es zu wollen, im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses wieder.

      Viele sind auf Ruhm und Ehren aus und etliche würden schlichtweg alles dafür tun. Doch nur sehr wenige erlangen sie auch und diejenigen, denen sie unverdient zugefallen sind, haben auf Dauer nichts davon. Der Pfirsichbaum, der in Asien Weisheit und Unsterblichkeit symbolisiert, kultiviert das Nichthandeln. Er erschöpft sich nicht im Streben nach Anerkennung, sondern begnügt sich einfach damit, seine wahre Natur zu respektieren. So wird er der Bewunderung würdig und bald ist seine Existenz für niemanden mehr ein Geheimnis.

      EIN EDLER MENSCH IST WIE EIN PFIRSICHBAUM.

      STETS SEINER TUGEND, SEINER WAHREN NATUR TREU,

      WILL


Скачать книгу