Pilgern mit Paddel. Timm Kruse
über die Zeit machen? Auf solchen Reisen scheint sich die Zeit zu dehnen – vielleicht, weil wir so viel Raum aufnehmen. Wir beschäftigen uns so viel mit den Weiten dieser Reise, den Landschaften und der Tierwelt, den Wäldern und dem Wasser, dem Licht und den Wolken. Wir gehen nie achtlos mit der Zeit um, die uns auf dieser Reise zur Verfügung steht.
Nach Stunden – wie viele es sind, wissen wir nicht – erreichen wir beseelt Orio. Hier mündet der Oria und ergießt sich für immer in das unendliche Meer, das sich heute überraschend ruhig zeigt. So ruhig, wie wir es auf dieser Reise noch nie gesehen haben. Wir essen schnell eine Pizza an einem Strandrestaurant, schicken Nachrichten über unser Wohlbefinden in die Welt und entschließen uns, am coronageplagten Zarautz vorbei nach Getaria zu paddeln. Denn dort gibt es einen Hafen. Häfen garantieren uns, dass wir auch bei hohem Wellengang am nächsten Tag raus aufs Meer können. Denn von einem Strand aus würden wir die Bretter mit Gepäck nicht gegen das Weißwasser der brechenden Wellen zurück aufs Meer bewegen können.
Ich bin ständig hellwach. Ich weiß nie, was hinter dem nächsten Kap lauert, wie der Wind in der nächsten Stunde bläst, wo sich ein vernünftiger Schlafplatz findet, ob es in der nächsten Bucht einen Supermarkt gibt. Jede Sekunde auf dem Meer zwingt mich in die Gegenwart. Meine Gedanken schweifen fast nie ab. Ich bin ständig präsent und nie entspannt. Das ist der große Unterschied zur Komfortzone, in der sich jeder auskennt, in der man keinen Eventualitäten begegnet. Der Gegensatz zu der Welt, in der alles durchgeplant ist.
Das Problem ist nur, dass wir unser westliches Leben auf räuberische Weise ausgebaut haben. Wir fahren riesige Autos, leben in überteuerten Angeberwohnungen, besitzen Kühlschränke so groß wie Kleiderschränke und kaufen mehr Klamotten im Jahr als Menschen vor 100 Jahren in ihrem ganzen Leben. Wir verschicken täglich mehr Nachrichten als unsere Ahnen in drei Generationen. Wir leben freiwillig in einem riesigen Menschenzoo, weil es uns in der freien Wildbahn zu gefährlich geworden ist. Und wenn jemand mal den Zoo verlässt, bekommt er von seiner Familie Mails voller Sorge, von seinem Arbeitsumfeld ein Kopfschütteln und von den meisten Menschen die Ferndiagnose »verrückt«. Wir sind schon so lange Käfiginsassen, dass unsere Spezies völlig vergessen hat, dass sich das wahre Leben außerhalb des Käfigs abspielt.
In den ersten beiden Tagen haben wir noch versucht, das ganze Plastik, das uns im Meer begegnet, in Müllsäcken zu sammeln. Wir lassen diesen hehren Umweltschutzversuch jetzt bleiben und geben auf. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen. Je näher wir den Städten kommen, desto verheerender ist die Plastikflut vor der Küste. Wir könnten dutzende 100-Liter-Beutel füllen und an Land bringen. Doch wer weiß, was mit dem Müll an Land geschieht. Es sind nicht wir Menschen, die so verdorben sind. Es ist ein System, das die Verdorbenheit erlaubt. Obwohl dem Meer so lange so viel Schaden zugefügt wurde, regeneriert es sich immer wieder. Vor allem die paar Monate des Lockdowns während der Corona-Epidemie waren für das Meer die beste Erholung seit 100 Jahren. Wir führen Krieg gegen die Tierwelt – und für ein paar Wochen herrschte Waffenstillstand. Zumindest teilweise.
Nach noch nicht einmal zwei Stunden erreichen wir den Hafen. Wir haben fast 5 km/h gemacht und sehen an diesem Tag zum ersten Mal, dass unser Ziel tatsächlich zu erreichen ist. Nördlich des Hafens verläuft ein steiler Weg zu einer Halbinsel. Turtle meint instinktiv, dass wir schauen sollten, ob es dort einen guten Zeltplatz gebe. Nach den ersten zwei Kurven wollen wir schon aufgeben, als ich den Impuls bekomme, noch eine Biegung weiterzugehen. Plötzlich sehen wir auf der linken Seite eine eingemauerte Empore mit Blick über die gesamte spanische Küste bis nach Frankreich. Wir haben den perfekten Zeltplatz gefunden, rollen Bretter und Gepäck nach oben und können unser Glück an diesem Tag überhaupt nicht fassen.
Wir schauen uns an, umarmen uns und Turtle gibt mir tatsächlich den versprochenen Kuss auf die Stirn. Mir wird in diesem Moment klar, dass dieses Abenteuer nicht nur eine Pilgerreise ist, sondern auch eine Geschichte über Freundschaft.
4. TAG: GETARIA BIS MUTRIKU
Wann beginnt eine Reise? Mit dem ersten Schritt oder dem ersten Paddelschlag? Mit der Anfahrt? Mit der Flugbuchung? Mit der Idee? Diese Pilgerreise begann jedenfalls schon lange vor dem ersten Paddelschlag, lange vor der Anreise. Sie begann im vergangenen Jahr bei einem Fahrradunfall. Mein Plan war damals, den nördlichen Jakobsweg zu Fuß entlang zu pilgern – nur eben an Land. Ich wollte 40 Tage reisen und hierüber ein Buch schreiben, das der Anfang einer Reihe werden sollte: 40 Tage Pilgern, 40 Tage im Wald, 40 Tage in der Wüste usw. Jedes Jahr ein Abenteuer, das genau 40 Tage dauern sollte.
Den Anfang hierfür hatte ich bereits 2012 mit meinem Buch 40 Tage Fasten gelegt. Ich hatte damals entschieden, für 40 Tage keine feste Nahrung zu mir zu nehmen – um Erleuchtung zu erfahren. Denn was Jesus kann, kann ich schon lange. Auch Moses, Buddha und weniger bekannte Heilige hatten für 40 Tage gefastet und waren danach in einen erweiterten Bewusstseinszustand eingetreten. Genau das war mein Ziel. Und vielleicht hatte ich diesen Zustand zwischendurch kurz erreicht, er hielt aber nicht lange an. Trotzdem fand ich die Quadragesima, wie die Kirche die 40-tägige Fastenzeit vor Ostern nennt, spannend und eine gute Basis für eine Buchreihe. Leider konnte ich im vergangenen Jahr meine 40 Tage Pilgern nicht antreten, da ich mir zwei Wochen vor der Reise zunächst den kleinen Zeh an einem Bettpfosten gebrochen hatte und kurz darauf eben jenen Fahrradun-fall hatte. Mein rechter Fuß war absurd geschwollen – Bänderdehnung innen –, mein Handgelenk arg lädiert, meine linke Körperhälfte blau und die Angst, für diese lange Wanderung nicht in Form zu sein, berechtigterweise gestiegen.
Mein weltlicher Freundeskreis meinte, dass ich ganz schön Pech hätte. Die spirituellen Freunde fragten sich und mich, was die Verletzungen und Unfälle wohl zu bedeuten hätten. Jemand meinte sogar, dass ich offensichtlich noch etwas daheim zu erledigen hätte und daher die Reise nicht antreten solle. Ich hingegen bin mir sicher, dass sich mein Unterbewusstsein vor der Wanderung drücken wollte und Selbstverletzungen in Kauf nahm, um nicht 800 Kilometer mit einem 15 Kilogramm schweren Rucksack an einem Meer entlang zu marschieren, dessen Wellen ich während der Reise nicht surfen kann. Da mein Unterbewusstsein den Status eines störrischen, rebellischen und insgesamt schlecht erzogenen Vierjährigen besitzt, wollte ich lieber auf den Erwachsenen in mir hören und mich nicht von meinem Vorhaben abbringen lassen. Ich musste jedoch auch zugeben, dass die Strategie meines Unterbewusstseins ziemlich gut funktioniert hatte, und ich weiterhin vor allem mit dem rechten Fuß stark humpelte und bei jedem Schritt stechende Schmerzen verspürte.
Trotzdem flog ich von Hamburg nach Bordeaux, nahm den Bus nach Biarritz, traf mich mit einer alten Freundin, aß ein letztes üppiges Mahl in einem französischen Nobelrestaurant, humpelte ein paar Meter die Strandpromenade herunter und beschloss, am nächsten Morgen wieder zurückzufliegen. Es machte überhaupt keinen Sinn, mit diesem Fuß weiter als ein paar Hundert Meter zu gehen. Vor allem nicht 25 Kilometer täglich mit Gepäck über Stock und Stein, Berge hoch und runter, über enge Pfade, Wurzeln, Geröll und Felsen.
Als mein Telefon dann klingelte, ahnte ich nicht, dass dies der wahre Beginn der jetzigen Reise sein sollte. Eine Freundin war dran, mit der ich häufig auf der Kieler Förde SUPe. Ich erzählte ihr von meinem Entschluss, die Tour abzubrechen. Es entstand eine kurze, aber entscheidende Pause, und dann fragte sie mich, warum ich die Strecke nicht paddeln wolle. Also den Jakobsweg auf der Biskaya zurücklegen, wenn das mit dem Wandern schon nicht so klappen würde.
Ich fand die Idee brillant, aber in meinem Zustand nicht durchführbar. Auf dem Rückflug kämpfte ich mit den Tränen, hasste mich selbst für meinen Dickkopf und schwor mir, in Zukunft besser auf deutliche Zeichen wie einen verstauchten Fuß zu hören.
Doch die Idee, den nördlichen Jakobsweg zu paddeln, war geboren und wuchs stetig in mir. Ich fing an zu recherchieren, ob schon mal jemand den Jakobsweg über die Biskaya bewältigt hatte. Im Internet fand sich nichts. Konnte man die Biskaya überhaupt SUPen? Kaum eine Meeresregion hat einen schlechteren Ruf als die spanische Nordküste. Doch im Sommer schien ein solches Abenteuer zumindest nicht völlig unmöglich.
Als mein Fuß zwei Monate später, Ende August, endlich wieder schmerzfrei war, beschloss ich spontan, nach Bilbao zu fliegen und zwei Wochen auf dem Jakobsweg zu pilgern, die Energie dieser Strecke zu spüren und vor allem zu schauen, wie das Meer aussieht.