Aristoteles. Eine Einführung. Wolfgang Detel
Ereignisse ausüben würden, und das scheint absurd zu sein. Dieser Einwand beruht aber auf einem tiefgreifenden Missverständnis der aristotelischen Ursachenlehre. Die allgemeinste Idee einer finalen Ursache sieht für Aristoteles so aus: Das Faktum »B kommt C zu« ist eine finale Ursache des Faktums »A kommt C zu«, falls es eine empirisch feststellbare reguläre Reihe von Zuständen der C-Dinge gibt, derart dass diese Zustände zunehmende Reifegrade darstellen und gewöhnlich mit der Entwicklung der B-Eigenschaft ihr reifstes Stadium erreichen, und wenn der Zustand »A kommt C zu« einer der früheren Zustände der Reihe ist, dessen Erreichen für die Realisierung des Ziels notwendig ist; man denke etwa an die Stadien der Entwicklung vom Hühnerembryo zum reifen Huhn, die Aristoteles selbst empirisch untersucht hat. Das ist eine der möglichen Erklärungen dafür, dass C-Dinge zuweilen die Eigenschaft A annehmen. Aber damit ist keinesfalls behauptet, dass das Endstadium einen zeitlich inversen Einfluss auf frühere Stadien ausübt. Man kann in diesem Sinne ohne Probleme von finalen Ursachen sprechen.7
Aristotelische Ursachen sind mit ihren Effekten zwar nicht über Naturgesetze verbunden (der Begriff des Naturgesetzes wurde erst von den Stoikern entwickelt), wohl aber über universelle empirische Regularitäten. Wenn »B kommt C zu« eine aristotelische Ursache für »A kommt C zu« ist, muss zugleich gelten, dass A allen Bs zukommt. Wenn beispielsweise das Material Bronze von erzernen Statuen eine aristotelische Ursache für ihr großes Gewicht [35]ist, muss natürlich dem Material Bronze großes Gewicht zukommen. Und wenn die Stellung der Erde zwischen Mond und Sonne eine aristotelische Ursache für die Mondfinsternis ist, dann muss die Verfinsterung jedes Sterns die Stellung eines undurchsichtigen Körpers zwischen Stern und Sonne implizieren.
Diese Bedingungen ermöglichen es gerade, den Verweis auf Ursachen in eine syllogistische Form zu gießen. Und damit kann Aristoteles den Begriff einer Demonstration an der Idee einer deduktiven Erklärung ausrichten: Der gültige Syllogismus AaB, BaC ⇒ AaC ist eine Demonstration oder wissenschaftliche Erklärung, wenn seine Prämissen für wahr gehalten werden dürfen und wenn die zweite Prämisse BaC als eine der aristotelischen Ursachen für die Konklusion AaC klassifiziert werden kann (APo. I 2). Im Allgemeinen sind die Konklusionen von Demonstrationen, wie bereits bemerkt, selbst universelle Fakten, die zunächst induktiv zu etablieren sind. Aber Aristoteles erkennt auch Demonstrationen singulärer Fakten an, obschon sie nicht so »schön« sind wie Demonstrationen von universellen Fakten (APo. II 11; I 24; I 34). Das singuläre Faktum beispielsweise, dass die Perser Athen militärisch angegriffen haben, lässt sich nach Aristoteles durch die beiden Prämissen demonstrieren, dass (a) eine mächtige selbstbewusste Militärmacht mit Krieg reagiert, wenn sie von einer schwächeren Stadt angegriffen wird, und (b) das schwächere Athen mit dem Angriff auf Sardis die Perser als mächtige, selbstbewusste Militärmacht attackiert hat. In Demonstrationen von singulären Fakten ist die aristotelische Ursache selbst ein singuläres Faktum.
Wenn wir uns an den oben skizzierten Beispielen [36](i)–(iv) orientieren, sehen einfachste Demonstrationen, also deduktive Erklärungen, die auf aristotelische Ursachen verweisen, so aus:
(i)* Statuen aus Metall sind schwer, weil (a) Bronze schwer ist und (b) Statuen aus Metall aus Bronze bestehen (Prämisse (b) verweist auf eine materiale Ursache); syllogistische Notation (mit a = kommt allen zu, b = kommt zu):
(a) schwer a aus Bronze bestehen
(b) aus Bronze bestehen a Statuen aus Metall
(c) schwer a Statuen aus Metall
(ii)* Der Mond ist zur Zeit t verfinstert, weil (a) immer wenn ein Stern am Himmel im Sonnenschatten der Erde liegt, verfinstert ist und (b) der Mond zur Zeit t im Sonnenschatten der Erde liegt (Prämisse (b) verweist auf eine effiziente Ursache); syllogistische Notation:
(a) verfinstert a im Sonnenschatten der Erde sein
(b) im Sonnenschatten der Erde sein b Mond zur Zeit t
(c) verfinstert b Mond zur Zeit t
(iii)* Die Verdauung erfordert Spaziergänge nach dem Essen usw. (usw. steht für: vergleichbare Empfehlungen der Mediziner zur Förderung der Verdauung), weil (a) die Erhaltung der Gesundheit Spaziergänge nach dem Essen usw. erfordert und (b) die Erhaltung der Gesundheit das Ziel der Verdauung des Essens ist (Prämisse (b) verweist auf eine finale Ursache); syllogistische Notation:
(a) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Erhaltung der Gesundheit
[37](b) Erhaltung der Gesundheit a Verdauung des Essens
(c) Spaziergänge nach dem Essen usw. a Verdauung des Essens
(iv)* Eine Saite S produziert Töne in einer Oktave, weil (a) die Produktion von Tönen in einer Oktave die Teilung der Saite im Verhältnis 1 : 2 erfordert und (b) die Saite S im Verhältnis 1 : 2 geteilt wurde (Prämisse (b) verweist auf eine formale Ursache); syllogistische Notation:
(a) Produktion von Tönen in einer Oktave a Teilung im Verhältnis 1:2
(b) Teilung im Verhältnis 1:2 b Saite S
(c) Produktion von Tönen in einer Oktave b Saite S
In allen diesen Beispielen ist (i) der Schluss von den Prämissen (a) und (b) auf die Konklusion (c) ein logisch gültiger Syllogismus, (ii) der kursiv geschriebene Begriff der Mittelbegriff, und (iii) Prämisse (b) die Prämisse, die auf eine aristotelische Ursache verweist (mit dem Mittelbegriff als erklärender Eigenschaft). Im Übrigen erklären die Demonstrationen (i)* und (iii)* universelle Fakten, die Demonstrationen (ii)* und (iv)* dagegen singuläre Fakten.
Damit hatte Aristoteles das Konzept der deduktiven wissenschaftlichen Erklärung erfunden.
Wir können nun den letzten Schritt im Aufbau einer wissenschaftlichen Theorie, wie Aristoteles sich ihn vorstellt, leicht beschreiben: Unter allen Deduktionen, die in einer vollständigen Analyse auftauchen, müssen diejenigen ausgewählt werden, die zugleich Demonstrationen und damit deduktive wissenschaftliche Erklärungen sind – deren zweite Prämisse sich folglich als eine der aristotelischen Ursachen klassifizieren lässt.
[38]Aristoteles bemerkt des Öfteren, dass die Einsicht in die obersten Prinzipien oder Definitionen das höchste Ziel wissenschaftlicher Aktivität ist und dass sich die obersten Prinzipien oder Definitionen nicht selbst noch einmal demonstrieren lassen (APo. I 2; II 19). Wir dürfen diese logisch triviale Bemerkung nicht missverstehen – so als wollte er sagen, dass wir die obersten Prinzipien und Definitionen direkt und unmittelbar, also ohne weitere rationale Begründung, erfassen könnten. Ganz im Gegenteil können wir sie nach Aristoteles nur am Ende eines zum Teil langen Begründungsganges erkennen.
Allerdings unterscheidet er verschiedene Arten von Prinzipien (APo. 1 2). Die wichtigste Art sind die obersten erklärungskräftigen Prämissen, die an der Spitze einer ausgearbeiteten wissenschaftlichen Theorie stehen. Einige dieser Prinzipien nennt Aristoteles auch Definitionen, und zwar jene, die syllogistisch konvertieren und somit wahre syllogistische Sätze der Form AaB sind, für die auch die Umkehrung BaA wahr ist. Natürlich handelt es sich dabei nicht um Definitionen im modernen Sinne – also nicht um bloße analytische Sätze oder Analysen von Wortbedeutungen, sondern um empirisch oder mathematisch gehaltvolle Sätze über die Welt. Prinzipien dieser Art können trivialerweise nicht selbst demonstriert werden, d. h., sie könnten nicht innerhalb der Theorienkonstruktion deduktiv erklärt werden. Aber ein Erfassen dieser Prinzipien setzt ersichtlich die Konstruktion einer abgeschlossenen Theorie voraus; erst nach der Theorienkonstruktion können wir erkennen, welche universellen Sätze in ihrem Gegenstandsbereich Definitionen sind. Daher sind genau diejenigen vielfältigen Gründe, die für die Konstruktion und [39]Annahme einer Theorie im Ganzen sprechen, auch die Gründe, die dem Postulat ihrer Definitionen zugrunde liegen. In diesem Sinne ist das Erfassen dieser Art von Definitionen nicht unbegründet. Aristoteles bemerkt ausdrücklich, dass die Angabe oberster Definitionen und oberster erklärungskräftiger konvertierbarer Prämissen in Analysen auf dasselbe hinausläuft (APo. II 10).
Wenn wir eine wissenschaftliche