Sprachen lernen in der Pubertät. Heiner Böttger
Gehirns nicht konstant und in allen ArealenAreale gleichmäßig verläuft. Es ist eine programmierte Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen mit massiven Umbauprozessen im adoleszenten Gehirn.
AdoleszenzAdoleszenz definiert in etwa den Lebensabschnitt zwischen der späten Kindheit und dem Erwachsenenalter. Sie ist vom Geschlecht, der Kultur, der Ernährung und anderen Faktoren abhängig. Sie umfasst ganzheitlich die physische und mentale EntwicklungEntwicklung zum selbstständigen, verantwortungsbewussten Erwachsenen.
Umso wichtiger ist es, dass sich alle für die sprachliche Bildung dieser AltersgruppeAltersgruppe Verantwortlichen um ein Basiswissen aus vielerlei Perspektiven bemühen, also holistische Kompetenzen aufbauen. Dazu gehören neben Erkenntnissen der Sprachendidaktik die der Sprachenneurodidaktik, der Neurowissenschaften sowie der Spracherwerbswissenschaft und der Entwicklungspsychologie. So entsteht eine Grundlage für begründetes, durchdachtes, professionelles sprachunterrichtliches Handeln basierend auf klaren Beweisen, nicht auf Vorurteilen, Mythen und unreflektierten Präferenzen.
Sichtbar, somit beobachtbar und spürbar, sind Veränderungen in der Psyche der sich wandelnden und entwickelnden Kinder. Diese völlige gedankliche Neuorientierung der heranwachsenden Jugendlichen hängt mit einem biologischen Erdrutsch in deren Gehirn zusammen, einer grundlegenden Reorganisation (Giedd et al. 1999: 861ff.; vgl. auch Giedd 2004: 77ff.). In dieser Zeit ermöglicht es die große Plastizität, also die Anpassungsfähigkeit und Veränderbarkeit des adoleszenten Gehirns, dass sich Einflüsse von außen in besonderer Weise prägend auf kortikale Schaltkreise auswirken können. Die Anpassungsfähigkeit ist in der Tat enorm: Ein Verlust von Synapsen durch Verletzungen kann mit dem bestehenden Netzwerk ausgeglichen werden. Auch Sprachlerneffekte sind zu beobachten – der Muttersprachenerwerb ist abhängig von einer umfassenden SynaptogeneseSynaptogenese, die später durch die Reduktion gestärkt, stabilisiert und effizient gemacht wird. Dieses Netzwerk bildet dann die Grundlage für das weitere Fremdsprachenlernen unter institutionalisierten Bedingungen nach dem Alter von etwa vier bis fünf Jahren, wenn die EntwicklungEntwicklung der Muttersprache bezüglich Grammatik und Wortschatz im Großen und Ganzen abgeschlossen ist (vgl. Böttger 2016: 76).
Es entstehen somit sowohl ganz erhebliche Chancen für jede Art von Bildung, insbesondere sprachliche Bildung und Erziehung (vgl. Konrad et al. 2013: 425), jedoch auch hohe Anforderungen an das weitverbreitete geringe Verständnis der Verantwortlichen für diesen Aspekt von PubertätPubertät. Einfache Erklärungen bilden nicht annähernd die Komplexität dieses zerebralen Umbruchs ab.
Alles im pubertierenden Gehirn entwickelt sich hormonell bedingt unterschiedlich stark und schnell, passt nicht mehr in das weitgehend vorhersehbare, berechenbare, ausgeglichene und harmonische Gleichgewicht der Kindergedankenwelt. GeschlechtshormoneGeschlechtshormone sind ab etwa dem zehnten bis zwölften Lebensjahr die Verursacher des scheinbaren GefühlsGefühle- und Gedankenchaos. Sie leiten die körperliche ReifungReifung bis hin zur Geschlechtsreife ein. Wie genau der Umbau- und Reorganisationsprozess abläuft, ist nicht abschließend geklärt. Für das Sprachenlernen relevante, bereits gesicherte Erkenntnisse und Aspekte werden im Folgenden geklärt. Diese umfassen auch den sprachlichen Beziehungsaufbau, die IdentitätsentwicklungIdentitätsentwicklung im kommunikativen Kontext, das Sprachselbstbewusstsein, die Kontrolle sprachlicher Produktion sowie kommunikativ-soziale Kompetenzen.
1.1 Alles auf Start
Zu einem nicht exakt vorhersehbaren Zeitpunkt beginnt die Wandlung vom Kind zum Jugendlichen (vgl. Harley 2018: 109ff.). Das Hirn weist generell eine hohe Dichte an Rezeptoren für SexualhormoneSexualhormone auf, die so auch während der AdoleszenzAdoleszenz dort neuronale ArealeAreale beeinflussen, zumal sie in dieser Zeit ansteigend aktiviert werden.
Verantwortlich ist dafür in erster Linie der Hypothalamus, der das Ausschütten der HormoneHormon initiiert (vgl. Sambanis 2013: 69). Er ist der kleinere Teil des ZwischenhirnsZwischenhirn und steuert die biologischen Grundfunktionen des Körpers (vgl. Böttger 2016: 94): Atmung, Nahrungsaufnahme, Blutkreislauf. Zu Beginn der PubertätPubertät sendet der Hypothalamus chemische Signale an die Drüse Hypophyse, damit diese Botenstoffe ausschüttet, die wiederum u.a. die Produktion der SexualhormoneSexualhormone Östrogen und TestosteronTestosteron bei Mädchen bzw. Jungen beeinflussen. Der genaue Zeitpunkt ist individuell unterschiedlich und abhängig von weiteren Faktoren, beispielsweise den vorhandenen Fettreserven bei Mädchen.
Der Hypothalamus (1) befindet sich im Bereich der Sehnervenkreuzung. Er ist ein wichtiges Bindeglied zwischen Nervensystem und Hormonsystem, erreicht die Größe eines Fünf-Cent-Stücks und wiegt ca. 15 Gramm. Durch den Hypophysenstiel (2) (Infundibulum) besteht eine Verbindung mit der Hypophyse (3) (HirnanhangdrüseHirnanhangdrüse), die wie ein Tropfen hängt. Die Hormonausschütung verläuft ab dort als Kettenreaktion wie folgt: Spezielle HormoneHormon aktivieren in den Eierstöcken bzw. Hoden die Produktion von Östrogen und TestosteronTestosteron, zwei SexualhormonenSexualhormone (4). Diese wirken erneut auf den Hypothalamus und beeinflussen den Sexualtrieb.
Abb. 1
Hormonausschüttung
Hormonausschüttung (nach Tefi) (angepasst) © Shutterstock
1.2 Qualitative Änderungen in den Hirnregionen
In der AdoleszenzAdoleszenz entsteht durch die Reorganisationsprozesse bis etwa zum 30. Lebensjahr ein Ungleichgewicht zwischen reiferen subkortikalen und unreiferen präfrontalen Hirnstrukturen. Dies betrifft insbesondere das früher reifende limbische System, das auch das BelohnungssystemBelohnung, Belohnungssystem beinhaltet, und das im StirnlappenStirnlappen sitzende Kontrollsystem (siehe Abb. 2). Dies ist mit tiefgreifenden emotionalen und kognitiven Veränderungen verbunden. Letztere umfassen auch die exekutiven Funktionen (vgl. 3.3.3), die Denken und Handeln kontrollieren, und so erst auch z.B. eine flexible Anpassung an neue sprachliche Herausforderungen in neuen sprachlichen Kontexten ermöglichen (vgl. Casey et al. 2010).
Abb. 2
Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen
Nichtlineare Reifungsprozesse von subkortikalen und präfrontalen Hirnarealen (Casey et al. 2008)
Die, an der gesamten körperlichen EntwicklungEntwicklung gemessenen, immer noch unreifen synaptischen Netzwerke im jungen Gehirn verantworten so die verminderte kognitive und emotionale SelbstregulationSelbstregulation und damit auch einen zeitweisen Kontrollverlust, auch in sprachlicher Hinsicht.
Das Spannungsfeld KognitionKognition – EmotionEmotionen ist für die PubertätPubertät konstituierend: Das Denken Pubertierender ist durch die sich erst entwickelnde neuronale Verbindung und Integration von limbischem System und präfrontalem Kortex geprägt. Ist wenig Erregung vorhanden, werden die Denkprozesse über den StirnlappenStirnlappen gesteuert (= kalte Kognition), bei starken EmotionenEmotionen werden Entscheidungen über das limbische System gesteuert (= heiße Kognition).
Besonderes Augenmerk verdient, auch in spracherzieherischer Hinsicht, die emotionale EntwicklungEntwicklung (vgl. 3.3). Natürliche Stressoren führen zu positiven Auswirkungen auf Anforderungen und Lernprozesse, jenseits einer gesunden Grenze verändern sie jedoch neuronale Strukturen, beispielsweise durch intensive AngstAngst/ anxiety, Angsterkrankungen, exzessiven Stress, soziale Be- bzw. Verurteilung. Ab dem frühen Sprachenlernen bis zum Ende der PubertätPubertät führen positives FeedbackFeedback und Erfolge zur gesunden SelbsteinschätzungSelbsteinschätzung und Selbstregulierung.
Die ReifungReifung des Gehirns von der Kindheit bis in die AdoleszenzAdoleszenz ist ein höchst dynamischer Gesamtprozess (vgl. Abb. 3) als Resultat vieler unterschiedlicher Einzelprozesse. Um zu verstehen, was diesbezüglich in der PubertätPubertät vor sich geht, ist zunächst ein Blick zurück in die EntwicklungEntwicklung des kindlichen Denkorgans bis zum Eintritt in die Pubertät notwendig.
Abb. 3
Entwicklungsphasen
Entwicklungsphasen