Nächsten Sommer - Jugendbuch. Hanne-Vibeke Holst

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ihn verbissener als je zuvor. Sie verachtete ihn. Aufgeblasener fetter Frosch, reaktionärer Chauvi, konnte nicht ertragen, dass er keine Macht mehr über sie hatte. Darum ging es hier doch. Um Macht und Besitzansprüche. Er glaubte, sein Besitzrecht über einen Haufen Steine und einige teure Designermöbel garantiere ihm auch unbeschränkte Gewalt über sie. Aber das stimmte nicht mehr.

      Louise kniff die Augen zusammen und schüttelte langsam den Kopf. Dann drehte sie sich um, ließ ihn stehen und ging zu Anders zurück.

      »Wir hauen ab«, teilte sie Anders mit, der schon seine Tasche gepackt hatte, an der Tür stand und fluchtbereit wirkte. Louise streifte sich ihren blauen Pullover über den Kopf, stopfte Bücher, etwas Wäsche und ihre Kulturtasche in ihren Rucksack und knipste das Licht aus.

      Auf der Treppe begegnete ihnen niemand, der Vater war offenbar in sein Zimmer gegangen. Aber Louise wollte sichergehen, dass ihre Botschaft bei ihm ankam, und deshalb schlug sie die Haustür hart hinter sich zu.

      »Was jetzt?«, fragte Anders, als sie draußen auf dem Bürgersteig standen.

      »Kannst du mich nicht zu Stine fahren?« Louise war todmüde und wollte am allerliebsten in einem warmen Bett neben einem lieben Menschen einschlafen.

      »So spät? Willst du nicht lieber mit zu mir kommen? Dann nehmen wir morgen einfach den Bus?«, fragte er und fasste sie ums Handgelenk.

      »Ich weiß nicht so recht . . . Was sagen denn deine Eltern, wenn du mitten in der Nacht eine wildfremde Person anschleppst?«

      »Ach, das sind die doch gewohnt! Komm jetzt!« Er nahm ihren Rucksack und ging zum Rekord.

      »Du bist ja vielleicht grob!«, sagte Louise, war aber erleichtert, weil er alles so gelassen hinnahm. Ein tröstliches Wangenstreicheln hätte sie in Tränen ausbrechen lassen.

      Als sie die schlafende Villenstraße verließen, sah sie, dass ihre Mutter am Mansardenfenster stand und ihr nachschaute.

      Das Erste, was Louise registrierte, als sie in Anders’ Bett erwachte, waren gleichzeitig die ungewohnte Ruhe und die fremden Geräusche. Als Zweites ging ihr auf, dass Anders verschwunden war und dass sie allein in einem kleinen Mansardenzimmer mit schrägen Wänden lag. Ein Stückchen blauer Himmel wurde von einem Dachfenster eingerahmt und draußen bewegte sich eine Baumkrone.

      Sie erkannte seine abgenutzte Schultasche, die er achtlos auf den schweren, alten Schreibtisch geworfen hatte. Alle Möbel waren alt, der Schrank, der Stuhl und das Bett, in dem sie lag. Aber an der Querwand stand ein Holzregal mit einer Stereoanlage und vielen Büchern. Mit Romanen, Gedichtsammlungen, allem Möglichen. Und im untersten Fach stand unter einer Plastikhaube eine Schreibmaschine.

      Wozu er die wohl brauchte? Um Aufsätze und Protokolle zu schreiben? Oder ob er ganz einfach schrieb? Er hatte nie darüber gesprochen, aber es gab sicher sehr viel, was er niemandem erzählt hatte.

      Unten ging eine Tür und irgendwer kam pfeifend die Treppe herauf. Es hörte sich an wie Anders, deshalb stellte Louise sich schlafend und versuchte bildschön dabei auszusehen.

      »Guten Morgen, Dornröschen!« Kaum hatte er die Tür aufgerissen, da stand er auch schon am Bett. Eine kalte Hand stahl sich unter die Decke und legte sich auf ihren nackten Bauch.

      Louise schrie auf.

      »Bist du wahnsinnig, Mann!«

      »Entschuldigung, ich wollte bloß sehen, ob du wach bist. Ach, was bist du schön warm!« Er legte seinen Kopf an ihren Hals, schnupperte und stieß kleine genießerische Töne aus.

      »Du riechst nach Kühen!«, rief sie und hielt ihn von sich weg. Er trug Arbeitskleidung. Grüne Cordhose und kariertes Hemd.

      »Mmm. Ich komm ja auch gerade aus dem Stall, das ist also kein Wunder. Was ist das schön, eine Frau im Bett zu haben!«

      »Wie spät ist es?«, fragte Louise mit einer leisen Ahnung, dass es schon ganz schön spät war.

      »Viertel vor acht. Der Bus ist weg. Aber ich musste meinem Vater bei einer kalbenden Kuh helfen.«

      »Und jetzt? Wie sollen wir jetzt zur Schule kommen?«

      »Wir können den nächsten Bus nehmen oder Mutter kann uns fahren. Wir können auch ganz einfach wegbleiben.« Er setzte sich auf und legte eine Hand auf ihre Brust.

      »Schwänzen? Ich dachte, du tust so was nicht?« Louise hatte schon oft geschwänzt, während Anders immer in der Schule war.

      »Ich tu’s auch nur im äußersten Notfall.«

      »Und der liegt heute vor?« Louise lächelte ihn an.

      »Aber sicher. Bist du vielleicht nicht untergetaucht und habe ich es nicht auf mich genommen, dich vor deinem irrsinnigen Vater zu beschützen?« Anders breitete dramatisch die Arme aus und Louise hätte ihn küssen mögen, wenn sie sich die Zähne geputzt hätte.

      »Hast du deinen Eltern gesagt, dass ich hier bin?«, fragte Louise nachdenklich.

      »Sie sind über den tiefen Ernst der Angelegenheit im Bilde, ja!«, antwortete er mit tiefer Stimme. »Mutter backt auch schon Weißbrot und Kringel und was weiß ich, nur deinetwegen. Also mach, dass du aus dem Bett kommst!«

      Als Louise mit Anders die Küche betrat, schien es dort von Menschen nur so zu wimmeln. Am Küchentisch saßen der Postbote, ein jüngerer Bursche und ein grauhaariger Mann in einem abgenutzten khakifarbenen Schlosseranzug, der Anders’ Vater sein musste. Sie tranken Kaffee und daneben stand seine Mutter am Herd und nahm eine Brotform aus dem Backofen. Sie stellte sie schnell auf dem Herd ab, wischte sich die Hände an der Schürze und kam mit ausgestreckter Hand auf Louise zu.

      »Willkommen bei uns«, sagte sie und lächelte freundlich. Louise sagte Guten Tag und mochte die kleine, rundliche Frau, die sich ein Kopftuch um die Haare gebunden hatte, sofort.

      »Ihr wollt doch sicher Frühstück? Setzt euch einfach hin.« Sie nickte einladend zum Esstisch in der Ecke hinüber. Anders setzte sich auf die Bank vor der Wand, wo auch für Louise Platz war. Der Vater und der Postbote nickten ihnen zu, während der junge Typ verlegen seinen Teller anstarrte und mit den Fingerspitzen Krümel zusammenschob.

      »Na, dann muss ich wohl mal wieder«, sagte der Postbote und drückte seine Zigarette aus.

      »Ja und wir auch«, erwiderte der Vater und griff nach seiner Schirmmütze, die neben der des Postboten auf der Heizung lag.

      Sie schoben ihre Stühle lärmend zurück und bedankten sich für den Kaffee.

      »Wir sehen uns sicher später«, sagte der Vater zu Louise und Anders, dann steckte er sich die Pfeife in die Brusttasche und ging hinaus.

      »Da haben wir doch ein bisschen Ruhe«, sagte Anders’ Mutter und deckte für sie den Tisch. Sie servierte wirklich ein Luxusfrühstück, mit warmen Scheiben Weißbrot, selbst gebackenem Roggenbrot, Marmelade, Käse, drei Sorten Aufschnitt. Schließlich setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee ans Tischende und sorgte dafür, dass sie auch ja genug zu essen hatten. Louise aß drei Scheiben Weißbrot, Anders sogar fünf, deshalb brauchte sie sich nicht zu schämen.

      »Wie ist es denn so in der 3 g?«, fragte die Mutter. »Ihr seid ja bald fertig.«

      »Wir müssen uns schwer ranhalten. Das erzählen sie uns wenigstens die ganze Zeit«, antwortete Louise, nachdem sie ihren Bissen hinuntergeschluckt hatte.

      »Ja, das sage ich auch immer wieder zu Gunnar. Wir dürfen uns einfach nicht einbilden, dass Anders weiter hier zu Hause so viel helfen kann wie bisher. Wir wollen ja schließlich, dass er ein Examen macht, mit dem er etwas anfangen kann, nicht wahr, Anders?«

      »Ja, aber jetzt habt ihr ja Søren als Hilfe.« Anders sprach Dialekt, als er sich an seine Mutter wandte. Er kam Louise ganz fremd vor, sie hatte ihn immer nur Standarddänisch sprechen hören. Nur selten benutzte jemand von den Landleuten Dialekt in der Schule. Und wenn es jemand wagte, dann verstand der Lehrer in der Regel nur Bahnhof und es musste doch übersetzt werden.

      »Aber Vater klagt ja darüber,


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