Die Haimonskinder. Lise Gast

Die Haimonskinder - Lise Gast


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dann sag, deine Schwester kommt gleich zurück“, gebot sie dem Jungen und lächelte ihn ermunternd an. Sie merkte, daß sie ihm nicht noch mehr gute Ratschläge geben dürfte, wenn sie ihn nicht völlig kopfscheu machen wollte. Den ganzen Weg her hatte sie ihm schon vorgeredet, was er alles tun und was er um Gottes und Himmels willen nicht tun dürfe. Er war so ein Unglückswurm, ein Pfeifenheini, wie Ulla einmal gesagt hatte; Ulla fand die treffendsten Namen für alle Welt, und sie hingen fest wie Kletten. So sehr sie sich mühten, Christine und sie, den alten schönen Namen Wolf durchzusetzen, der erstens Vaters Name und zweitens von zwei Eltern und drei Schwestern liebevoll ausgesucht worden war, als endlich der ersehnte Erbe eintraf, immer wieder kam „Heini“ durch, weil Wolf eben ein solch unmöglicher Kerl war. Jetzt wieder stand er vor ihr, blaß und ängstlich und unmutig, und es fehlte nur noch, daß er den Finger in den Mund steckte und natschte, wie man zu Hause sagte.

      In diesem Augenblick ging ein Sonnenblitz über das Haus hin, der Nebel war zerrissen, und das Gras blinkte auf im Schmuck seiner bestrahlten Tautropfen. Ron reckte sich. Selbstverständlich konnte der Junge hier eine Weile allein sein, es gab doch keine kinderschlachtenden Räuber mehr im Wald. Wenn sie immer so entsetzlich ängstlich mit dem Jungen waren, würde er zeitlebens ein Waschlappen bleiben. „Drüben am Waldrand gibt’s Brombeeren“, sagte sie frisch, „du kannst davon essen, soviel du willst, und mittags komm ich wieder.“

      Sie schüttelte eine große Mohnkapsel in der Hand, dicht vor ihrem Ohr — wie Silber rieselte es darin. Lauter Mohn, dunkelblauer, fetter und haltbarer Mohn, etwas für den Winter, etwas zum Schlecken, etwas zum wirklich Sattwerden ...

      Wolf war zum Waldrand hinübergegangen — nicht gelaufen, wie andere Jungen laufen, sondern vorsichtig wie ein Storch im Salat, des nassen Grases wegen. Ron war schon wieder nahe daran, sich über ihn und diese seine Art zu ärgern; sie ging noch einmal in den Wohnraum und suchte etwas in ihrem Rucksack. Während sie so stand und kramte, verdunkelte sich das Zimmer, sie sah auf und nach dem Fenster, von dem her der Schatten kam. Gleich darauf fühlte sie ihr Herz anspringen, sie wußte nicht, ob aus Schreck oder aus Freude.

      „Ach, Matthias, Sie sind also doch noch gekommen, ich dachte —“

      Sie ging hinaus. In dem winzigen Flur, der hinter der Haustür zwischen den beiden ebenerdigen Zimmern gelegen hatte und jetzt zur Hälfte „Balkon“ war, trafen sie sich.

      „Ich habe den Jungen mit, aber ein großer Schutz ist er wohl nicht — ich dachte deshalb, ich könnte lieber jetzt schon — nur, der Mohn ist noch ganz klamm, man bekommt ihn ohne Messer nicht ab“, sagte sie und merkte selbst, daß sie allzuviel sprach aus Verlegenheit und dummer Scheu. Aber das kam daher, daß er ihre Hand so lange festhielt; man gibt doch die Hand nur kurz, kurz und kräftig, wenn man sie überhaupt gibt. Mit ihren Arbeitskollegen tauschte sie nie einen Händedruck, das war doch nicht nötig ... „Schutz, wogegen?“ fragte Matthias und lächelte ein bißchen. Sein Lächeln war immer so, daß es einem weh tat. Bitter? Spöttisch? Sie wandte sich ab.

      „Gegen Mohndiebe selbstverständlich“, sagte sie deshalb rasch. Sie wußte genau, worauf er anspielte, und daß er recht hatte mit seiner Anspielung. „Aber wenn Sie dablieben bis mittags — wir gehen heute nachmittag sicher nicht mehr aufs Feld, weil Sonnabend ist —, dann wäre ich beruhigt. Aber wenn Sie etwas anderes vorhatten —?“

      „Ich habe doch nie etwas anderes vor“, sagte Matthias langsam. Ron schluckte.

      „Um so besser“, sagte sie hastig und etwas munterer, als ihr zumute war. Ach, immer, immer die Muntere spielen! Bei Christine mußte sie es, bei Wolf, bei dem Bauern, dem sie half. Sie war abgestempelt und in diese Rolle gedrängt, ob sie mochte oder nicht. Wenn es ihr einmal schlecht ging und sie gab das zu, dann war die gesamte Umwelt beleidigt — „Sie und schlecht? Nein, aber das paßt doch gar nicht zu Ihnen!“ Gut denn, spielte sie eben ...

      „Haben Sie etwas zu essen mit? Ich denke, ich bringe ein Kochgeschirr voll Suppe von meinem Bauern mit, er gibt mir immer ganz anständig. Jetzt, wo wir Frühkartoffeln herausmachen, braten wir uns zum Frühstück immer welche in der Asche. Da bin ich gar nicht ausgehungert ... Ich wollte überhaupt mit Wolf heute hier übernachten, um den Mohn fertig zu bekommen.“

      Er hatte sich auf die Schwelle gesetzt und stopfte seine kurze Pfeife. Sie sah auf ihn herunter, gut sah er aus, wenn er so saß, lässig und trotzdem wie auf dem Sprung, trotz seiner Magerkeit gut und männlich. Und etwas erholt hatte er sich auch schon. Als sie ihn kennen lernte, gleich nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft, war er viel, viel elender gewesen.

      Sie verstand selbst nicht, daß seine Gegenwart sie mitunter so verwirrte. Nicht immer. Manchmal fühlte sie nichts als eine warme und herzliche Zuneigung zu ihm, dem ganz Alleinstehenden. — Wie reich war sie dagegen, sie, die noch drei Geschwister besaß. Dann aber wieder machte er sie schrecklich unsicher und verlegen, wenn er sie so ansah oder eben wie vorhin ihre Hand nicht loslassen wollte. Dumm. „Komm, Heini, sag guten Tag — Ja, das ist Wolf, von dem ich Ihnen schon erzählte“, sagte sie, „und das ist Onkel Matthias. Er will mit dir unsern Mohn hüten, bis ich wiederkomme — lieb von ihm, nicht? Und dann bring ich schöne warme Suppe für uns alle drei. Ich muß aber jetzt schleunigst weg, werdet ihr euch auch vertragen, ihr beiden Männer?“

      Sie lief quer durch den Wald; es war sicher später, als sie angenommen hatte. Daß ihre Uhr kaputt war ... Es war auch auf dem Feld sehr unangenehm, nie zu wissen, wie spät es war. Und sie mußte sich auch noch umziehen.

      Sie erreichte den Hof des Siedlers, bei dem sie arbeitete, in letzter Minute. Der Wagen stand schon angespannt. Husch ins Haus und hinauf in die Kammer, wo ihre Arbeitssachen lagen; eine alte Militärhose und ein kurzärmeliger, quergestreifter Baumwollpullover, den einmal eins der selten eintreffenden, dann aber um so beglückter begrüßten Amerikapakete gespendet hatte. Dazu besaß sie noch eine dunkle Uniformjacke, die von der Luftwaffe stammte. In der ersten, wildesten Zeit im Straßengraben gefunden, gewaschen und seitdem täglich benutzt, erst beim Enttrümmern und jetzt bei der Landarbeit. Im Augenblick hatte sie das karierte Dirndl aus- und ihr Räuberzivil angezogen, dann fegte sie die Treppe wieder hinunter und sprang hinten auf den eben anrollenden Wagen.

      „Was machen wir denn heute?“

      „Tabak“, beschied sie ihre Arbeitskollegin halblaut; der Bauer sagte nichts. Es gehörte wohl zum Wesen des Bauern, den Mund nur im Notfall aufzumachen. Ron hatte sich oft darüber geärgert, wenn sie bei einer ihr bis dahin unbekannten Arbeit fragte, wie man sie denn anfinge, und erst dann eine Antwort erhielt, wenn sie, auf Schweigen stoßend, die Handgriffe auf eigne Faust, aber verkehrt, begonnen hatte. Tabak. Ach nein, schön war das nicht, jedenfalls lange nicht so lustig wie Kartoffeln buddeln, und man konnte außerdem nicht wissen, ob es nun nur vormittags oder ganztags werden würde. Wenn man mittags draußen blieb, konnte sie nicht ins Lindicht laufen. Aber es war ja Sonnabend! Da war doch vielleicht nachmittags frei. Und selbst wenn sie blieb — Matthias würde sicher warten, auch wenn sie erst abends kam, und sie brauchte sich um Wolf nicht zu sorgen. Dann aber bekamen die Männer kein warmes Mittagessen, und das hatte sie ihnen doch eigentlich versprochen —

      Ron hatte verschiedene Eigenschaften, von denen sie nicht lassen konnte und auch nicht lassen würde, selbst wenn sie unter Eskimos oder Kannibalen gefallen wäre. Dazu gehörte, daß sie gegebene Versprechen hielt. Aber, wie oft konnte man sie einfach nicht halten, weil man nicht Herr seiner Zeit war!

      Nun, man würde ja sehen. Der Tabak stand groß und stolz mit riesigen, breiten Blättern, Elefantenohren, die zu ernten eigentlich ein Vergnügen war. Nur bekam man dabei so seltsam harzige, kohlschwarze Finger, die überhaupt nicht wieder sauber werden wollten, wenn man kein Benzin hatte, sie zu reinigen, und das hatte man selbstverständlich nicht. Ron arbeitete schweigend in ihren zwei Reihen, während ihre Gedanken spazierenliefen. Zuweilen brach sie eine dicke, saftige Saudistel ab, die sich zwischen dem Tabak angesiedelt hatte und legte sie an den Rand des Feldes, um sie nachher wieder zu finden. Dabei fiel ihr ein, daß sie heute vergessen hatte, nach Hans, ihrem Karnickel, zu sehen. Unglaublich. Dabei hatte sie Wolf auf dem Weg davon erzählt. Nun, vielleicht kümmerte sich Matthias darum.

      Dieser Gedanke war ihr gleichzeitig tröstlich und unangenehm. Tröstlich, weil dann Hans zu seinem


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