Wo der Hund begraben liegt. Pavel Kohout

Wo der Hund begraben liegt - Pavel Kohout


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wo Olga, die Herrin des Hauses, in fremde Schicksale vertieft ein Buch nach dem anderen zu einer Zigarette nach der anderen verschlang und der allmählich erwachende Gastgeber mit schlafwandlerischen Bewegungen den Braten für den Abend spickte.

      «Es geht uns aber gut!», pflegte Zet, wenn aufs neue die Gläser gefüllt wurden, ihren berühmten Toast zu verkünden.

      «Was würde der Genosse Husák dazu sagen?» pflegten wir zu fragen, wenn in der Küche im Schleier der Düfte Havels Schnitzel à la Berry, Zets Pfarrerkoteletts oder meine Linsen mit Reis gleichzeitig mit dem Abendstern aufgingen.

      Wir waren zufrieden, daß wir der unwirklichen Übermacht nicht als ein Häufchen Verzweifelter gegenüberstanden, sondern als eine Gruppe freier Menschen, die es sogar auch in dieser Situation fertigbrachte, wahrhaft glücklich zu sein. Mit der Lust, die uns unsere neuen Texte und neuen Treffen brachten, unterzogen wir uns auch neuen Prüfungen der Standhaftigkeit, welche die unbekannten Köche der Macht für uns zubereiteten und die uns ihre pickeligen Pikkolos und obskuren Ober servierten. Immer wieder halfen uns Phantasie und gegenseitige Information.

      Auch jetzt erläuterte ich meinen Freunden der Reihe nach, warum ich beide Angebote, das Schütters und das des Dr. Černý, annehmen wollte. Ich wollte mit größter Vorsicht ausprobieren, ob sich unser aller Isolierung zumindest für einige Zeit durchbrechen ließe, ohne daß der Versuch in erzwungene Emigration mündete, und vor allem, ob dies «ohne Verlust der Blume» möglich wäre, wie wir mit dem Slogan eines damals laufenden Fernsehwettbewerbs die Schwindsucht des Charakters umschrieben.

      Der Gönner in Hamburg wußte, daß ich bei Gefahr den Countdown sofort abbrechen würde. Das teilte ich auch Dr. Černý offen mit und beantragte auf üblichem Behördenwege für Zet und mich die Neuausstellung der uns entzogenen Reisedokumente. Die Stasis verschwanden aus unserem Leben wie Mitternachtsgeister, und ich schrieb in Ruhe für die internationalen Musikfestwochen in Luzern das Drama Roulette nach L. N. Andrejevs Erzählung Dunkelheit. Diese düstere Geschichte eines enttäuschten Revolutionärs und einer enttäuschten Dirne, die am liebsten ihre Schicksale vertauschen würden, beschäftigte mich in Verbindung mit dem Aufflammen des individuellen politischen Terrors in Westeuropa.

      Sechs Wochen später bekamen wir nach sechs Jahren die zu dieser Zeit begehrtesten tschechischen Bücher wieder: Pässe.

      Am Mittwoch, dem 10. Juli, flogen wir erst einmal nach Budapest.

      19

      Ungarn und Böhmen, noch Sommer 1974

      Oh, Staatsgrenze, magischer Kreis, der du uns jahrelang eingeschlossen hast und viele ihr ganzes Leben lang einschließt wie eine Gefängnismauer, für die einzige Sünde, nicht zur rechten Zeit, nicht am richtigen Ort geboren zu sein! Oh, grenzenloser Westen, allein der erzwungene Aufenthalt auf der immergleichen Heimaterde würde viele deiner Kraftmeier in brave Buben verwandeln, damit sie zur Belohnung für gutes Betragen die Nase wenigstens in benachbarte Auen stecken dürfen!

      Wie alle seine Inhaber berechtigte uns der neue Paß zum visumfreien Besuch des sozialistischen Balkan, mit Ausnahme des rebellischen Jugoslawien. Weil mir die Militärverwaltung aufgrund der geförderten Hamburg-Reise, über die sie offenbar instruiert war, auch die bislang verweigerte Bestätigung gab, mein Wehrpaß sei ordnungsgemäß bei ihr aufgehoben – meinen Rang führten sie in dem Schriftstück lieber nicht an –, entschlossen wir uns, diesen Zauber auszukosten, wie es uns gefiel.

      Es gefiel uns, nach Budapest zu fliegen, wo ich zuletzt im Jahre 1958 mit meinem bemerkenswerten Vater war, zur Premiere von So eine Liebe, im riesigen Vig Szinhaz. In der Stadt klafften damals noch Wunden aus dem Herbst 1956; die in den Seelen waren noch tiefer. Bei der Reservierung der Flugtickets verschwieg ich den Vornamen, beim Abflug von Käfig zu Käfig wurde nicht groß kontrolliert, und am Abend des 10. Juli schauten wir von der Terrasse des altmodischen Hotels Gellert, das uns so sehr an das geliebte Karlsbader «Pupp» erinnerte, bei Zigeunermusik auf die Donau. Es war uns gelungen, und ohne «Verlust der Blume».

      Die Stadt war wie ausgewechselt – fröhlich und freundlich. An den Wunden litten diesmal wir. Mein Theaterverleger, Eric Spiess aus Kassel, und mein Buchverleger, Jürgen Braunschweiger aus Luzern, kamen erst angeflogen, nachdem wir uns aus Budapest gemeldet hatten. Vorher wollten sie es nicht glauben. An drei Mittagen und drei Abenden aßen wir uns bei «Matyas Pince» durch die ganze Speisekarte, dazwischen erzählten wir den beiden auf der Terrasse bei kaltem Harslevelü all die unwahrscheinlichen Geschichten aus der Zeit, als sie keine Visa mehr zu uns bekommen hatten.

      Wir regelten unsere und unserer Prager Freunde literarische Angelegenheiten, zur Sicherheit gleich für fünf Jahre. Als wir beim Rückflug in wolkenlosem Blau aus der Vogelperspektive zuerst Sázava und dann den Hradschin-Platz sahen, war unser Bedürfnis nach der Welt für lange Zeit gestillt. Dieser kleine Ausflug sollte meine allerwichtigste Reise bleiben. Er übertönte im Gedächtnis auch die lang vergangenen drei Monate China, und auch das spätere Amerika wird ihn nicht überschatten. Es war – auch in dieser bescheidenen Ausgabe – die Neuentdeckung der verschollenen Welt.

      Wir landeten in Ruzyně – nicht weit entfernt vom gleichnamigen Gefängnis – am Nachmittag des 14. Juli und standen um halb sechs abends auf dem Rasen des Buquoy-Palasts, wieder einmal mit Drinks zu Ehren des Bastille-Sturms, unter den Freunden, die sich mit uns freuten. Die Kenntnis von unserer Ungarnreise verbreitete sich unter den Gästen des alljährlichen Festes, zu dem die Französische Botschaft nach wie vor alle einlud, die sie auch früher bewirtet hatte, immer noch heldenhaft die Proteste der neuen Machthaber ertragend, die uns nicht in die Augen sehen wollten. Diese Aufseher unserer Bastille, insbesondere die Vertreter der neuen Künstlerverbände, waren nach dieser Nachricht der Ohnmacht nahe. Wir konnten uns ausrechnen, daß sie sich von ihr bald erholen würden, doch auch solche Minierfolge luden uns für lange Zeit mit Energie auf.

      Bei der Redaktion der Zeit entschuldigte ich mich, ich würde auf den Brief von Grass antworten, sobald es möglich sei. Ihn selbst informierte ich auf Umwegen darüber, daß unsere Konfrontation mit der Macht einen kritischen Punkt erreicht hatte und wir uns derzeit bemühten, ein wenig Zeit zum Atemholen zu gewinnen. Die versuchten wir allesamt optimal zu nutzen.

      Ich schrieb das Stück Gott in Frankreich nach Romain Rollands Roman Meister Breugnon. Mein Leben lang habe ich hauptsächlich für mich geschrieben. Nach der grausamen Ballade Andrejevs brauchte ich das Thema des Kampfes eines Burgunder Weinbauern mit dem Krieg, den Krankheiten, der Liebe und dem Tod geradezu physisch; es gab mir Hoffnung, daß auch ich meine Kriege heil überstehen werde.

      Das Stück sollte auch ein Geburtstagsgeschenk für meinen alten Freund, den Schauspieler Valter Taub, sein. Er war fast der letzte der legendären Prager deutschen Juden, erzogen in drei Kulturen. Nach dem Krieg kehrte er aus der Emigration zurück, begann tschechisch zu spielen, und ich habe für ihn einige Hauptrollen geschrieben, vor allem die des Herrn im Talar in So eine Liebe. Nach 68 durfte man über seine hervorragenden Leistungen nicht mehr in der Presse berichten. Aus diesem Bann befreite ihn erst Willy Brandt, sein Freund aus dem Exil, als er ihn als Bundeskanzler bei seinem Staatsbesuch auf die Prager Burg einlud und an seinem Tisch sitzen ließ. Schau an, auch ein Spitzenpolitiker kann sich wie ein Mann von Ehre betragen!

      Unser Valtrrchen konnte inzwischen schon fünfunddreißig Worte, der Karikaturist Liďák lehrte ihn innerhalb weniger Tage an der Sázava den besonders papageienhaften Satz:

      «Mám rrrád ministrrra vnitrrra!» – Hab den Ministerrr fürrr Innerrres gerrrn!

      Der Laut, von dem der Vogel so freudetrunken Gebrauch machte, quälte dagegen Václav Havel. Das brachte uns auf die Idee, gemeinsam eine Groteske zu schreiben, genannt Rr, über einen Logopäden, der seinen verzweifelten Patienten von diesem Sprachfehler heilt. Da die Post unsere Briefe immer noch beförderte und der Inhalt des Einakters recht unschuldig war, verfaßten wir den Text auf dem Korrespondenzwege, so wie man auch Schach spielt. Den Freunden führten wir das Opus in Hrádeček persönlich vor. Den Wissenschaftler spielte Havel, und das Rätsel seiner plötzlich fehlerlosen Aussprache mußten wir dem staunenden Publikum nachträglich verraten: Im ganzen langen Text seiner Rolle waren wir ohne ein einziges «r» ausgekommen.


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