Die Wellenreiterin. Liz Clark
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LA CAPITANA
Gib das Schiff nicht auf
Noch bin ich ganz in der Nähe. Soll ich einfach umdrehen?
Reflexionen ziehen sich über das dunkle, wogende Wasser. Ich sitze auf dem Achterdeck, lasse die Beine über die Reling baumeln und blicke zurück zur erleuchteten Küste. Es ist fast Mitternacht, kühl und mucksmäuschenstill. Die Swell liegt vor Anker und wiegt sich sanft vor einem Inselchen direkt unterhalb der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Über San Diego und Tijuana Heiligenscheine aus elektrischem Licht. Keine dreißig Meilen Wasser trennen mich von der Sicherheit des hölzernen Anlegers, an dem wir vor wenigen Stunden noch vertäut waren. Nachdem ich die Leinen der Swell gelöst und zugesehen hatte, wie ein paar meiner Liebsten im Kielwasser zusehends mit der dunstigen Winterskyline verschmolzen, wischte ich mir ein paar Tränen aus dem Gesicht. Heute ist der 13. Januar 2006, und in zwei Wochen ist es drei Jahre her, seit ich das Boot gekauft habe.
Ich blinzele erschöpft, während ich immer noch versuche, mir einzureden, dass ich nach den gefühlt endlosen Vorbereitungen aufgeregt und stolz auf mich sein sollte. Doch die Angst und die Beklemmung wollen noch nicht klein beigeben. Meine innere Unruhe scheint regelrecht in den Himmel geschrieben zu sein. Im Norden: Licht, Vertrautheit, Behaglichkeit, Sicherheit, Familie. Im Süden: Dunkelheit, Fremde, Zweifel.
Mein Leben lang habe ich von dieser Reise geträumt, trotzdem bin ich ein nervöses Wrack. Nicht Monsterwellen oder Piraten machen mir Sorgen – es ist der Gedanke, zu scheitern. Der Horizont ruft. Ich will lossegeln, in der Ferne Breaks surfen, fremde Kulturen kennenlernen, das Glück finden – und eine bessere Art und Weise, wie ich im Einklang mit der Natur leben kann. Aber was, wenn ich einen dummen Fehler mache? Was, wenn jemand verletzt wird? Was, wenn ich mental oder körperlich nicht stark genug bin? Wie käme ich je mit der Enttäuschung klar, wenn ich – gegenüber mir selbst und all denen, die mir geholfen haben – eingestehen müsste, dass ich gescheitert bin? Mich beschleicht der blanke Schrecken, und es schnürt mir die Kehle zu, als ich an die unzähligen Leute denke, die mich dabei unterstützt haben, überhaupt bis an diesen Punkt zu kommen. Ich sehe direkt vor mir, wie ich mich lieber irgendwo in der Wüste verkrieche, statt ihnen erneut entgegenzutreten und mitzuteilen, dass ich auf Grund gelaufen oder auf ein Riff gekracht bin. Ja, ich sollte umkehren und noch ein paar realistischere Probefahrten machen, bevor ich wirklich lossegele.
Unverhofft taucht ein Seelöwe zu meinen Füßen auf. Er dreht sich und zieht seine Kreise knapp unter der Wasseroberfläche, spinnt glitzernde, phosphorisierende Bänder durch die dunkle See. Selbstbewusst und sorglos wirbelt und tollt er herum. Meine Schultern entspannen sich ein bisschen.
Mit seinen Kreisen und Achten scheint er meine Angespanntheit fast zu verhöhnen. »Genau das wolltest du doch«, will er mir sagen – noch ein Überschlag, noch ein Looping. »Im Hier und Jetzt leben … die kleinen Wunder der Natur schätzen lernen … dich frei fühlen.«
Er taucht auf, um Luft zu holen, und sieht mich an, als würde er auf eine Antwort warten. Ich weiß, ich weiß … Ich darf nicht umkehren. Das kleine Zeitfenster, das für den Törn gen Süden offen steht, geht schon bald wieder zu. Ich muss einfach mein Bestes geben und die Hürden nehmen, sobald sie sich mir in den Weg stellen. Ich habe eine Heidenangst, trotzdem gibt es nichts, was ich gerade lieber täte.
Die helle Flosse des Seelöwen tänzelt in der Dunkelheit davon.
»Gib das Schiff nur nicht auf«, rufe ich – so wie Barry, wann immer wir uns voneinander verabschiedet haben.
Dezember 1989, Baja California
»Es ist so weit, Schätzchen«, flüstert Dad und streichelt mir über den Rücken. Ich rolle von meiner Pritsche und folge ihm am Maschinenraum vorbei in die Kajüte unseres Segelboots. Es ist drei Uhr nachts.
Er breitet die Karte von Baja aus und legt sie auf den Kartentisch.
»Wir sind jetzt hier«, sagt er leise und zeigt auf ein kleines Bleistift-X. »Und da wollen wir hin.«
Er tippt auf ein Inselchen vor der Küste. Ich blinzele mir den Schlaf aus den Augen.
»Jetzt messen wir erst mal die Entfernung.« Er reicht mir den Kartenzirkel.
Ich ziehe die Bronzespitzen auseinander, halte sie an den Kartenrand und stelle sie so ein, dass sie exakt fünfundzwanzig Seemeilen messen, genau wie Dad es mir beigebracht hat. Dann legt er das Kurslineal an. Ganz vorsichtig, damit die Einstellung nicht verrutscht, setze ich die Spitzen um.
»Eins … zwei … drei … vier und ein bisschen«, zähle ich leise mit.
»Okay, und was ist vier mal fünfundzwanzig?«
Auf einem Blatt Schmierpapier rechne ich es aus. Übertrage die Zwei. Ich mag Mathe.
»Einhundert?«
»Sehr gut, Liebling«, flüstert Dad. »Ungefähr einhundert Seemeilen.«
Ich lege das Loch in der Kompassrose über das X, das unsere Position auf der Karte markiert, und richte den drehbaren Zeiger aus, um den Kurs einzustellen.
»265 Grad?«
»Super, Lizzy. Dann mal los!« Er lächelt mich stolz an.
Er zieht mir Rettungsweste und Haltegurt über, schnallt alles fest und gibt mir ein Küsschen auf die Stirn, bevor wir die Niedergangstreppe hochsteigen. Draußen ist es genauso finster wie zu Hause in unserem gruseligen Flur. Die Sitze sind vom Nieselregen nass. Trotzdem habe ich kein bisschen Angst. Mit Dad bin ich in Sicherheit. Die Zündung knistert, als er den Motor anwirft.
Dad verschwindet in der Dunkelheit, und ich höre, wie das Großsegel am Mast hochfährt. Auf sein Kommando lege ich den Vorwärtsgang ein, während er den Anker einholt.
Nur Minuten später kommt er mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen zurück und verstaut den Ruckdämpfer.
»Bereit für deine erste Nachtwache?«
Meine Hände prickeln. Ich bin nervös, fühle mich aber auch wichtig. Der kalte Wind und hin und wieder ein Regenschwall fahren unter das Segeltuch-Bimini. Dad zieht mir die Kapuze über.
»Bereit, Dad.«
Ich bin neuneinhalb Jahre alt und segle, seit ich ein Baby war, auch nachts mit der Familie nach Catalina. Vor zwei Wochen sind wir in San Diego losgefahren, um in den kommenden sechs Monaten in Mexiko zu segeln.
»Denk dran, du schnallst weder den Lifebelt ab noch verlässt du das Cockpit, egal, was passiert. Wenn du aufs Klo musst, dann weck mich, okay?«
Er stellt den Autopiloten ein, dann hebt er mich auf den Sitz am Steuer und umarmt mich.
»Immer in alle Richtungen den Horizont absuchen«, fährt er fort. »Wenn du irgendwo Licht siehst oder etwas, was dir komisch vorkommt, weck mich einfach auf. Ich bin gleich hier, Schätzchen.«
»Okay, mach ich, Daddy.«
Er legt sich auf die Cockpit-Pritsche. Ich halte nach vorn und in alle Richtungen Ausschau. Für den Moment ist bis zum Horizont nichts zu sehen. Ich berühre meinen BFF-Kettenanhänger, ein halbes Herz, und denke an zu Hause.