Die Nacht der Delfine. Lauren St John

Die Nacht der Delfine - Lauren St John


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sie ihr das nicht wirklich bestätigt hatten, denn Jemmy konnte nicht sprechen und Ben gab nur selten ein Wort von sich.

      «Irgendwann heute noch, wenn es geht», sagte Gwyn Thomas spitz. Martine erinnerte sich, dass sie eigentlich aufstehen sollte. Als sie auf den Wecker blickte, konnte sie nur mit Mühe einen Seufzer unterdrücken. 6 Uhr! Was hatte ihre Großmutter nur gegen ein gemütliches Ausschlafen am Sonntagmorgen?

      Als Gwyn Thomas Martines Gesichtsausdruck sah, blitzten ihre Augen belustigt auf. Es hatte mal eine Zeit gegeben, als diese Augen Martine immer nur kalt und feindselig musterten. Doch in diesen Tagen war ihr gebräuntes Gesicht meist von Lachfalten geprägt.

      «Du bist bestimmt sehr aufgeregt, morgen mit deiner Klasse wegzufahren», sagte sie. «Zehn ganze Tage auf hoher See. Zehn ganze Tage voll gepackt mit Geschichte und Natur und einer Prise Abenteuer, nehme ich an. Ich beneide dich. Wirklich. Am liebsten würde ich gleich mitkommen.»

      «Wollen wir tauschen?»

      Gwyn Thomas lachte. «Einen Moment lang klang das beinahe echt, Martine. Du freust dich doch bestimmt auf die Reise, oder etwa nicht?»

      «Natürlich», sagte Martine mit dem größten Maß an Überzeugung, das sie aufbringen konnte, und unterdrückte ein Gähnen. «Ich kann es kaum noch erwarten.»

      «Ich bin froh, das von dir zu hören. In den letzten Tagen warst du nämlich etwas blass. Die frische Seeluft wird dir bestimmt guttun. Also, dann sehen wir uns gleich unten. Ich mache nur schnell das Picknick für unsere Strandwanderung fertig.»

      «Okay, bis gleich», sagte Martine in munterem Ton. Doch sobald sich die Zimmertür hinter ihrer Großmutter geschlossen hatte, vergrub sie den Kopf in den Händen und schloss die Augen. Sie wusste genau, weshalb sie in ihren Träumen von Haien heimgesucht wurde, und es hatte nichts damit zu tun, dass sie bei offenem Fenster schlief, sich in den Bettlaken verwickelte oder vor dem Schlafengehen Käse aß. Diese und alle anderen fadenscheinigen Gründe, die man allgemein für die Entstehung von Albträumen verantwortlich machte, waren aus der Luft gegriffen. Sie hatte die Albträume wegen etwas, das sich vor fast genau einem Jahr ereignet hatte.

      Sie war mit ihren Eltern nach Cornwall in Urlaub gefahren. Am letzten Ferientag musste ihr Vater, der Arzt war, zu einem Noteinsatz, weil sich ein paar Jungen bei einem Sturz von einem Felsen verletzt hatten. Martines Mutter, die dabei war, sich von einer Grippe zu erholen, hielt gerade ein Mittagsschläfchen. Da er sie nicht um ihre Ruhe bringen wollte, fragte er Martine, ob es ihr etwas ausmachen würde, während seiner Abwesenheit etwas zu lesen oder zu zeichnen.

      Doch es war ein brütend heißer Sommertag, und nach einer Weile langweilte sich Martine und beschloss, zum Strand hinunterzulaufen, um ein kurzes Fußbad zu nehmen. Das sollte sie schaffen, bevor ihre Mutter wieder aufwachte. Als sie am Strand ankam, war das Meer so einladend, dass es nicht beim Fußbad blieb, und so stand sie schon bald bis zur Hüfte im Wasser. Doch dann türmte sich plötzlich wie aus dem Nichts eine Welle vor ihr auf, warf sie um, riss sie mit und schleppte sie über den Meeresboden, sodass Martine sich – wie im Schleuderprogramm einer Waschmaschine – immer wieder überschlug. Gerade als sie glaubte, gleich ertrinken zu müssen, spuckte die Welle sie wieder aus, woraufhin sie sich halb schwimmend, halb kriechend wieder an den Strand zurückkämpfen konnte.

      Etwa zur gleichen Zeit hatte ein Fischer einen Riesenhai an Land gezogen. Martine hatte seine düsteren Umrisse im Sand gesehen, als sie über den Strand heimwärts taumelte. Und irgendwie hatten sich die beiden Dinge – der Hai und die Waschmaschinenwelle – zusammen tief in ihre Erinnerung gegraben. Wenig später lag sie in den Armen ihrer Mutter, die sie bereits verzweifelt gesucht hatte und so erleichtert und überglücklich war, sie unbeschadet wiederzusehen, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, sie zu schelten. Weil sie ihre Mutter mit der Geschichte nicht belasten wollte, beschloss Martine, ihr nichts davon zu erzählen, dass sie beinahe ertrunken wäre. Sich selbst aber schwor sie, nie wieder im Meer zu baden, wenn sie es irgendwie vermeiden konnte.

      Seither hatte sich auch gar keine Gelegenheit dazu ergeben. Sie waren am nächsten Tag aus Cornwall abgereist. Und im folgenden Winter waren ihre Eltern bei dem Brand ums Leben gekommen. So hatte keiner entdeckt, was Martine nie einer anderen Menschenseele anvertraut hatte, weil sie es sich selbst nicht eingestehen mochte: dass sie panische Angst vor tiefem Wasser hatte.

      • 2 •

      In den sechs Monaten, die Martine bisher in Südafrika verbracht hatte, war sie nicht ein einziges Mal zum Strand gefahren, da ihre Großmutter das Reservat höchst selten verließ und außerdem gar nichts davon hielt, sich unter einer dicken Schicht Sonnenschutzcreme in einem gestreiften Liegestuhl zu räkeln. Martine war das natürlich nur recht. Und sie war ziemlich überrascht gewesen, als Gwyn Thomas ihr am vorigen Abend eröffnet hatte, sie würden morgen in aller Herrgottsfrühe zu einem Spaziergang an der Kapküste aufbrechen. Glücklicherweise war es viel zu kalt zum Schwimmen, und so konnte sich Martine leichter mit dem Gedanken anfreunden, als es im Sommer der Fall gewesen wäre.

      Sie freute sich sogar, als sie an diesem Sonntagmorgen kurz vor acht in Uiserfontein eintrafen und sich der weite Ozean vor ihnen ausbreitete. Die Sonne warf ein golden glitzerndes Band über die wild wogende blaue Welt. Lilafarbenes Heidekraut erstreckte sich bis dicht an die Küste. Als sie aus dem Auto stieg, erfasste eine steife Brise ihr Halstuch, und der salzige Geruch von Meerwasser drang in ihre Nase.

      Es war alles andere als warm. Martine war froh, dass ihre Großmutter auf Wollmütze, Anorak und Handschuhe als Schutz gegen die Kälte bestanden hatte. Abgesehen von ein paar Möwen war draußen in der Bucht einzig ein Kitesurfer zu sehen. Gebannt verfolgte Martine von den Dünen aus, wie er, einem Wagenlenker gleich, über die Wogen flog. Immer wenn er wieder hinter einem Wellenberg verschwand, war nur noch der aufgeblähte bunt gestreifte Schirm seines Lenkdrachens zu sehen. Manchmal blieb er so lange unsichtbar, dass sie glaubte, er sei von der Unterströmung erfasst worden, doch dann wurde er unvermittelt wieder von einem Brecher ins Bild hineinkatapultiert.

      Der Wind peitschte die Wellen zu schäumenden Gischtfahnen, die aus der Ferne wie Schimmelmähnen aussahen. Die Wellen schleuderten den Surfer und sein Brett in die Luft, wo er von seinem Drachen erfasst und immer höher gezogen wurde. Mit furiosen Salti und wilden Schlenkern schien er mühelos die Schwerkraft zu überwinden. Dann ließ er sich wieder hinabgleiten, bis er wieder hinter einer Woge verschwand.

      Am Strand war wegen des pfeifenden Windes ein Gespräch beinahe unmöglich, und so blieb Martine keine andere Wahl, als Gedanken über die bevorstehende Studienreise zu wälzen. Eigentlich klang ja alles fantastisch – wenn da nur nicht ihre panische Angst vor dem Schwimmen gewesen wäre. Miss Volkner hatte ihnen erzählt, die Sardinenwanderung sei eines der großartigsten Naturereignisse der Welt. Sie verglich es mit der Gnuwanderung in Ostafrika, bei der jedes Jahr mehr als eine Million Gnus mit ihren geschwungenen Hörnern in einer endlosen schwarzen Masse durch die gelbe Serengeti zogen, immer auf der Flucht vor Löwen, Hyänen, den nur als gefleckte Goldstreifen erkennbaren Geparden und träge blinzelnden, in heimtückischen Flüssen liegenden Krokodilen. Bei der Sardinenwanderung würden sich einzelne Sardinenschwärme manchmal über eine Fläche von fünfzehn Kilometer Länge und drei Kilometer Breite erstrecken. Dazu gesellten sich Delfinherden, die bis zu tausend Tiere stark waren.

      Am meisten freute sich Martine auf die Delfine. Bisher hatte sie erst einen lebenden Delfin gesehen. Das war in einem düsteren Aquarium in England gewesen, das sie mit der Klasse ihrer nicht minder düsteren Mittelschule Bodley Brook in England besucht hatte. Ein Delfintrainer hatte dem armen Tier in einem schäbigen Schwimmbecken mit Wasserbällen und Gummiringen ein paar Tricks abgerungen. Die Kinder durften den Delfin mit Fischen – wahrscheinlich Sardinen – aus einem Eimer belohnen. Doch Martine hielt sich zurück. Als sich der Delfin einmal dem Rand des Schwimmbeckens näherte, fiel ihr auf, dass er seine Mundwinkel zu einem ständigen Lächeln verkrampft hatte. Sie wurde den Eindruck nicht los, dass der Delfin nur eine Grimasse machte – wie ein lächelnder Clown unter einem Strom von Tränen.


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