Verschwunden in Deutschland. Imke Müller-Hellmann
das damals ab, sie glaubte nicht, dass das, was sie bekommen würde, die richtigen Knochen seien. Später, so heißt es, habe sie es bereut. Bei Tiedes letztem Besuch in Engerhafe, das war im April 2010, nahm er ein Gedicht seiner Tochter Marleen mit und legte es vor die 188 Namen unter einen Stein.
Marleen bekam Post. Ob sie eine Tochter oder Enkelin von Pieter van der Weij sei, ich hätte ein Gedicht mit ihrem Namen gefunden. Sie schrieb gleich zurück: Ja, das bin ich.
Marleen hat Elli gefragt, was sie damals gedacht habe. Was das für Menschen seien, die halb verhungert durch Engerhafe liefen, die die Toten hinter sich über die Straße zogen. Elli sagte, sie habe gedacht, das seien die Bösen, die Verbrecher, das habe man ihr so erzählt. Ich dachte: Das wollte man wohl auch so glauben. Elli sprach von der Vermieterin, die wollte, dass sie das Licht auslösche, von bettelnden Männern, die den Rauch ihres Schornsteins gesehen hatten, und von denen, die ihr Fahrrad mitnehmen wollten, sie versteckte es auf dem Dachboden. Elli saß am Tisch und ihre Augen sahen durch alles hindurch, ihre Hände lagen im Schoß. Marleen sagte auf Englisch zu mir: »Sag ihr, dass ich nicht will, dass sie sich schuldig fühlt.« Sie sagte es leise und schnell. Ich nickte und schwieg. Elli sagte: »Die Deutschen«, sie sagte: »unsere Deutschen mussten die Latrinen des KZs sauber machen«. Und: »Den Arzt kannte ich gut, er musste den Totenschein schreiben, alles wurde genau notiert, er hat mir oft davon erzählt.« Marleen schaute fragend über den Tisch, ich übersetzte, einiges, nicht alles. Marleen zeigte Elli die Fotos von Tiede, Pieter, Sjouke und Theunis. Sie zeigte mit dem Finger auf den, der ihr Opa gewesen war, und Elli tauchte von weit her wieder auf. »Was für ein schmucker Kerl.« Marleen trank eine weitere Tasse Tee, er schmeckte ihr, Elli bemerkte es und lächelte ihr zu. »Kommen Sie wieder, Sie sind jederzeit herzlich willkommen.« Dann standen Elli und Marleen auf, sie schüttelten sich die Hände, und Marleen fragte auf Deutsch mit Akzent, ob sie sie »knuffeln« dürfe, Elli drehte sich zu mir: »Was will sie?«, ich sagte: »Dich drücken.« Elli sagte: »Ach so.« Sie umarmten sich, es sah sehr herzlich aus.
Marleen stellte zwei Töpfe mit Blumen vor die Blöcke aus Stein. »Eine für meine Familie und eine für Elli.« Sie zündete vier Kerzen an und verharrte schweigend davor, dann sagte sie: »Es ist gut, alle vier Brüder beisammen zu sehen.«
Wir setzten uns auf eine Parkbank, auf der anderen Seite der Straße, vor ein Schild, auf dem stand: Hier befand sich die Latrinenanlage des KZs Engerhafe. Wir aßen Brot und Käse, Tomaten und Lakritz. Eine Frau zog ihre Hunde an uns vorbei und es war sehr warm. Wir waren müde und wir begannen in unseren Muttersprachen zu sprechen, manches verstanden wir, anderes nicht. Wir hatten kleine schwarze Punkte auf der Haut, überall, Gewittertierchen, und dunkle Wolken hingen tief über den Wiesen, aber sie kamen nicht näher, sie blieben am Ende des Himmels, des Stückchens Himmel, das man als Enkelin an diesem Tag von jener Parkbank aus sah.
Marleen kam wieder. Sie brachte ihre Eltern mit, ihren Bruder, ihre Tante, und Sjoukje, 88-jährig, mit ihrer Tochter und deren Mann. Alle setzten sich auf ein Podium in Engerhafe und erzählten den Menschen aus dem Ort und der Umgebung im Saal, wer Pieter gewesen war und wie das gewesen ist, ohne ihn, seine Brüder und seinen Vater weiterzuleben. Sie weinten auf dem Podium und im Saal war es sehr still. »Nie konnte ich mit meiner Mutter darüber sprechen«, sagte Sjoukjes Tochter Wies, die neben Sjoukje saß, unter Tränen, und Tiede sagte: »Dafür konnte ich mit Sjoukje sprechen, aber mit Jouk nicht, was für dich möglich gewesen war.«
André Coste
André Coste war Bäcker. Er kam aus Frankreich, aus der Region Rhône-Alpes im Departement Drôme, im Süden des Landes. Der Ort seiner Herkunft ist klein. Er heißt Claveyson und er hat 837 Einwohner, im Jahr 1911 waren es sogar 902. Am 24. Januar 1911 brachte Isabelle in Claveyson André zur Welt. Isabelle war von den Ursulinen großgezogen worden, sie war 22 Jahre alt und es war ihre erste Geburt. Ihr Mann war Albert. Albert war Bürgermeister des Ortes und er war Kommunist. Er war strikt eingestellt gegen Kirche und Religion, und seine Frau Isabelle war das auch.
André wuchs heran und verliebte sich in Marcelle, eine katholische Frau. Diese sang im Kirchenchor mit, und es heißt, man sei sich nach der Mitternachtsmesse an Weihnachten nähergekommen und aus dieser geheimen Begegnung entstamme ein Kind. Nun besaßen die Eltern ein großes Anwesen, auf dem Tabak und Spargel wuchsen, und im Schuppen neben den Wohnräumen hingen die Tabakblätter zum Trocknen von Schnüren herab. André hätte als Erstgeborener Anrecht auf dieses Anwesen gehabt, auch er hätte also Tabakblätter geerntet und getrocknet, und Spargel aus der Erde herausgeholt. Doch der Ort war zu klein und in Claveyson wussten bald alle, dass der Sohn des kommunistischen Bürgermeisters eine katholische Frau geschwängert hatte. Für Familie Coste war das eine Schande. André packte seine Sachen und floh. Er ging nach Grenoble, 80 Kilometer entfernt, und lernte dort das Handwerk des Backens. Marcelle gebar im September 1934 eine Tochter. Es waren Marcelles Eltern, die das Kind großzogen, denn ohne Mann musste Marcelle arbeiten gehen.
Zwei Jahre später kam André zurück in die Nähe von Claveyson. Er arbeitete erst in Valence, 35 Kilometer Süd, und dann in Tain l’Hermitage, 15 Kilometer Südwest. Dort kaufte er eine Bäckerei, 1936, in dem Jahr, in dem er auch heiratete: Marthe, eine katholische Frau. Die Mutter von Marcelle wusste, wo der Vater des Kindes war, das sie großzog, und nicht selten passierte es, dass sie – resolut, wie sie war – in der Bäckerei in Tain I’Hermitage auftauchte und nach Geld verlangte. Andrés Frau ahnte also, dass da irgendetwas noch war. Am 8. Januar 1939 brachte Marthe eine Tochter zur Welt. Marthe hätte sie Lucienne genannt, nach dem Heiligen dieses Tages, Sankt Lucian, aber André widersprach: »Nein, sie heißt Monique.« Später bekam sie ein weiteres Kind, einen Sohn, Alain. Die junge Familie ging zurück nach Valence, und gleich hinter Valence beginnt der Vercors.
Der Vercors ist ein Gebirgsmassiv, das in diesen Jahren an Bedeutung gewann, denn es war Krieg. Am 14. Juni 1940 besetzten deutsche Truppen Paris. Frankreich wurde geteilt in eine okkupierte Zone im Norden und eine freie Zone im Süden. Die Regierung im Süden kooperierte eng mit den Besatzern. Auch der Vercors liegt im Süden, doch die Berge des Vercors gehörten der Résistance. 4000 Kämpfer sollen es gewesen sein, die sich in den Schluchten und Pässen auskannten, die sich dort versteckten und Überfälle organisierten, mit großem Rückhalt, so heißt es, aus der Region. Die Schroffheit der Zweitausender-Gipfel und die tief eingeschnittenen Täler gaben den Widerstandskämpfern, Maquisards genannt, Schutz. Die Alliierten versprachen Verstärkung und schwere Waffen und so rief man im Juni 1944 die freie République du Vercors aus.
André war nicht in den Bergen, André war in der Bäckerei. Man weiß nicht genau, wie er mit der Résistance verbunden war. Eine Geschichte besagt: Er buk Brot für die Maquisards. Eine andere sagt: Er schmuggelte Waffen im Mehl. Vielleicht ist es der Feindschaft zwischen Kirche und Kommunismus in der Familie Coste geschuldet, dass auch erzählt wird, es sei ein als Priester verkleideter Kunde gewesen, der ihn verriet. Fragt man heute die Überlebenden der Maquisards, so sagen diese: Wir wissen nicht, was er tat, darüber sprach man nicht, wir misstrauten uns. Jeder hätte ein Falscher sein können. Wir schwiegen. Wir führten nur die Befehle aus.
Monique war viereinhalb Jahre alt, 1943, als uniformierte Männer in die Bäckerei eintraten und nach dem Vater fragten. Monique weiß bis heute, dass der Vater die weiße Bäckermütze trug und die Schürze und das Bäckerhemd, blau-weiß kariert, und dass er Mehl an den Händen hatte. Sie sieht die Stufen der Bäckerei, den Laden, die Küche dahinter, das Zimmer, und sie weiß, dass es ein Samstag war. Dann war der Vater weg. Sie besuchten ihn im Gefängnis, die Mutter, Monique und Alain, erst in Valence und dann in Lyon, 100 Kilometer entfernt, in der Festung Montluc. In Montluc saßen Tausende von Menschen, die Feinde der Nazis waren, hinter dicken Mauern, isoliert. Es waren Gitter zwischen André, seiner Frau und seinen Kindern, und man hörte Gewehrsalven in der Nähe. Und das, sagt Monique heute, vergisst sie nie, und es habe Jahrzehnte gebraucht, um zu vergeben. Die Mutter schrie, dass sie nicht gehen werde, bevor der Vater die Kinder noch einmal umarmt habe. Sie haben sich umarmt und sich nie wiedergesehen. Jede Woche sind sie zum Bahnhof gegangen und haben gehofft, dass er kommt. Züge kann Monique nicht mehr sehen, und Abschied, das heißt für sie: Tod.
André Coste starb am 27. November 1944 in Engerhafe, dem Dorf, in dem meine Großmutter lebte, sie war damals 27 Jahre alt. Ihr Mann war