Das einfache Leben. Ernst Wiechert

Das einfache Leben - Ernst Wiechert


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und an­de­re Ge­sich­ter tauch­ten auf, ver­härm­te, ver­dor­be­ne, ver­wüs­te­te. Es war, als schlin­ge der Zug die Ern­te der letz­ten Jah­re in sich hin­ein, zu dür­ren Gar­ben has­tig ge­bun­den: Müt­ter, die vor sich hin wie auf Grä­ber starr­ten, auf ein­ge­sun­ke­ne und ver­fal­le­ne Kreu­ze; Kin­der, die für eine ge­stoh­le­ne Stun­de beim Hass oder beim Las­ter zu Gast ge­we­sen wa­ren; Frem­de, die auf schmut­zi­ge Blät­ter un­le­ser­li­che Zei­chen mal­ten; und Krüp­pel, vie­le Krüp­pel, die Blut­zeu­gen der großen Op­fe­rung, die stumpf oder voll Hass auf die Ge­sun­den blick­ten; de­nen man ge­sagt hat­te, dass sie Hel­den sei­en, und die in den Bli­cken der an­de­ren nun zu le­sen glaub­ten, dass man sie für arme Nar­ren hielt, ein un­be­que­mes Heer, das nun mit­zu­schlep­pen war auf dem Wege zu ei­nem neu­en Ziel.

      Tho­mas schloss die Au­gen. Er war ge­sund, auf­recht, gut ge­klei­det. Er war wie ein Mann in ei­nem To­ten­saal, der auf­ste­hen und da­von­ge­hen konn­te, in­des die an­de­ren sich hass­voll auf ih­rem La­ger krümm­ten und mit halb ver­wes­ten Glie­dern ihn fest­zu­hal­ten such­ten. Alle hat­ten zu ster­ben oder kei­ner von ih­nen. Nie­mand hat­te reich zu sein, und wer ge­sund war, war ein Räu­ber.

      »Der Herr hat ein Ren­dez­vous?« frag­te ein Mann, der ihm ge­gen­über­saß. Die Haut über sei­nem ver­zehr­ten Ge­sicht war so dünn ge­spannt wie über ei­nem Draht­ge­stell, und Tho­mas dach­te, dass es einen hel­len Ton ge­ben müss­te, wenn der Fin­ger des To­des an­poch­te bei ihm. Aber der Klang der Fra­ge war böse, hohn­voll und von dem Hass des Ge­schla­ge­nen er­füllt.

      »Ja, mit dem En­gel«, sag­te Tho­mas schnell.

      Der Blick des an­de­ren ver­wirr­te sich und lief die Fens­ter­rei­he ent­lang, über der in läp­pi­schen Ver­sen die Un­fall­war­nun­gen stan­den. Dann kehr­te er lang­sam zu­rück. »Es gibt kei­ne En­gel mehr«, sag­te er, und sei­ne Stim­me war nun müde und hoff­nungs­los.

      Die Brem­sen setz­ten ein, und Tho­mas stand auf. »Doch«, sag­te er im Vor­bei­ge­hen, »es gibt noch En­gel … nur ha­ben sie eine Rüs­tung an …«

      »Ver­schüt­tet ge­we­sen«, mur­melt eine Stim­me, als Tho­mas aus­stieg.

      Er bog in eine der Ne­ben­stra­ßen ein, die wie ein un­end­li­cher Schacht in eine fer­ne Wüs­te zu lau­fen schi­en. Ein grün­li­cher Mond hing über den Dä­chern, frag­wür­dig wie al­les Licht in die­ser Stadt. Die Trit­te der Men­schen hall­ten an den Wän­den em­por, und man hör­te die­je­ni­gen her­aus, die noch auf Holz­soh­len gin­gen. Das Licht hin­ter den Fens­tern war trü­be, und wenn ein Tor­weg sich auf die Hinter­hö­fe öff­ne­te, weh­te es dumpf her­aus wie von ei­nem Fried­hof, auf dem die Krän­ze welk­ten. Gram­mo­pho­ne kreisch­ten aus der Fer­ne, er­stickt wie un­ter nas­sen Tü­chern, und ganz weit vor ihm, hoch über un­sicht­ba­ren Dä­chern, ras­te ein zer­ris­se­ner Kreis, bald grün, bald rot er­strah­lend, um sei­ne Ach­se. Er sah aus wie ein ver­stüm­mel­tes Si­gnal aus der Unend­lich­keit.

      Die Hän­de in den Ta­schen, den Hut zu­rück­ge­scho­ben, ging Tho­mas die Stra­ße hin­un­ter. Die­se und die nächs­te und wie­der die nächs­te. Plät­ze leuch­te­ten auf und blie­ben zu­rück, Gär­ten hin­ter brö­ckeln­den Mau­ern, ein Schie­nen­strang, ein Au­to­bus, der wie ein feu­ri­ger Dra­che in ei­ner Höh­le ver­schwand. Er lieb­te es, so zu ge­hen. Er hat­te nicht Freu­de dar­an. Er war nur wie ein Schiff vor dem Win­de. Fünf Jah­re wa­ren ver­tan. Der Krieg war die Pro­be ge­we­sen, und er hat­te nicht be­stan­den. Vie­le hat­ten nicht be­stan­den, aber das trös­te­te ihn nicht. Nur, er woll­te von Neu­em an­fan­gen, und das un­ter­schied ihn von vie­len. Er wuss­te noch nicht, wo es be­gin­nen wür­de, aber er hoff­te, ihm zu be­geg­nen. Hier viel­leicht, und wenn nicht hier, dann an ei­ner an­de­ren Stel­le. Er wuss­te, dass an­de­re stu­dier­ten oder in ei­ner Bank ar­bei­te­ten oder in ei­ner Fa­brik. Aber das woll­te er nicht, weil es kein neu­er An­fang war. Sie hat­ten ihn über Bord ge­wor­fen, als er nach der Flag­ge ge­fasst hat­te. Das Meer war über ihm zu­sam­men­ge­schla­gen, und er war nur durch ein Wun­der ge­ret­tet wor­den. Der En­gel hat­te ihn an­ge­blickt und war wei­ter­ge­gan­gen, aber er wür­de ihm wie­der be­geg­nen. Vi­el­leicht an der nächs­ten Stra­ßen­e­cke, wo das wei­ße Schild über dem Bür­ger­steig leuch­te­te. Vi­el­leicht vor der Erd­ku­gel, die vor sei­nen Bü­chern stand, viel­leicht erst im An­ge­sicht des To­des. Aber er wür­de ihm be­geg­nen.

      Er sah an den mat­ten Ster­nen, dass er nach Os­ten ging, und er merk­te es an dem Ge­sicht der Stadt. Här­ter als in den an­de­ren Vier­teln hat­te der Krieg hier re­giert. Die Häu­ser wa­ren wie vom Aus­satz zer­fres­sen, die Fens­ter er­blin­det, die Ge­sich­ter ver­wüs­tet, und was aus den Tor­we­gen sich auf die Stra­ße schlich, hat­te fah­le Stir­nen und einen lei­sen Schritt, wie über ver­las­se­nen Schlacht­fel­dern. Mäd­chen spra­chen ihn an und folg­ten ihm eine Wei­le, und es war ihm, als könn­te man durch ihre Au­gen hin­durch­se­hen ins Bo­den­lo­se. Sel­ten emp­fing er ein bö­ses oder ro­hes Wort, und auch dies klang nur wie hin­ter ei­ner zu­ge­schla­ge­nen Tür. Er fürch­te­te sich nicht, denn er be­saß nichts. Er war so al­lein wie die­se Aus­ge­sto­ße­nen aus Kel­lern und Hinter­hö­fen, und was sie ihm zum Be­sitz rech­ne­ten, war ihm so schal, wie ih­nen die Luft, die sie at­me­ten.

      Er woll­te sie we­der prü­fen noch be­keh­ren. Er woll­te nur eine Welt er­fah­ren, die er nicht kann­te. Was sie in sei­nem Hau­se hin­ter den dunklen Vor­hän­gen spra­chen und dach­ten und be­gehr­ten, kann­te er al­les. We­der Brot noch Wein wür­de ihm dar­aus wach­sen. Aber dies hier kann­te er nicht, und er woll­te al­les ken­nen, die gan­ze Erde, wie sie rund und schwei­gend vor sei­ner Bü­cher­wand schweb­te. Ge­fecht und Schlacht, Tod und Zer­stö­rung, das konn­te nicht al­les sein. Ir­gend­wo schleif­ten die zer­ris­se­nen Zü­gel die­ses Wa­gens über die Erde, und so lan­ge muss­te man ge­hen, bis sie über einen hin­weg­feg­ten und man ver­su­chen konn­te, ein Stück zu er­grei­fen. Den Sinn muss­te man zu fin­den su­chen; nicht das Gan­ze, die Lö­sung, das Letz­te, aber ein Stück­chen Sinn, den Schim­mer ei­nes Pla­nes, und dann woll­te man in Got­tes Na­men noch ein­mal an­fan­gen.

      Der Weg führ­te über eine Brücke, die sich hoch und weit über Schie­nen­strän­ge spann­te. Im Os­ten er­lo­schen die Lich­ter all­mäh­lich in der Nacht, und er sah die Fern­zü­ge hin­ein­brau­sen in die schwei­gen­de Schwär­ze, die schon über Äckern und Wäl­dern stand. Im Wes­ten aber scho­ben die Si­gna­le sich dicht zu­sam­men, wei­ße, rote und grü­ne Lich­ter, wie in ei­ner Ha­fen­ein­fahrt. Ein lei­ser Wind ging über sei­ne Hän­de, die auf dem kal­ten Ei­sen des Ge­län­ders la­gen, und es war nun al­les wie­der wie vor frem­den Küs­ten, mit halb­ge­lösch­ten Feu­ern, wo man nach trü­ge­ri­schen Licht­sek­to­ren steu­er­te und der Tod, schwei­gend, aber wach­sam, un­ter den Ster­nen hing.

      Dann saß er auf dem Ver­deck ei­nes Au­to­bus. Die Licht­re­kla­men wur­den zahl­rei­cher, wil­der und ge­hetz­ter, die Stra­ßen be­leb­ten sich, Por­tiers stan­den wie Kö­ni­ge in Mar­mor­ein­gän­gen, und über die Köp­fe der Men­ge ho­ben sich far­bi­ge Arme mit Zei­tun­gen, und hei­se­re Stim­men schri­en die Ern­te des Ta­ges aus, die Kur­se, die Mor­de, die Streiks, die Re­vo­lu­tio­nen.

      Tho­mas stieg aus und ließ sich trei­ben. Die Men­ge schluck­te ihn auf wie der Strom einen Trop­fen. Krüp­pel kau­er­ten an den Git­tern der Vor­gär­ten, und ihre ein­tö­ni­gen Ver­se fie­len wie stump­fe Mes­ser in die Men­ge. Geld klirr­te, und die meis­ten


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