Der Erbe des Riesen. Lena Klassen
I D I N I: die Tochter des Königs von Yos, schon fast zu alt zum Heiraten
S O R A Y N: ein bemerkenswertes Kind, der Einzigartige
T A M A I T: der Sohn von Alika und El Jati
T I N E K: die Weinfürstin von Neiara
T O R I S: ein Mann aus dem Zinta-Volk; mit ihm tröstete Mino sich über Blitz’ Heirat hinweg
V A R I T I: Ketas Frau, gehört zum Volk der Zintas
W E R I E: Hebamme auf Arima, lässt sich nicht gerne helfen
W E R S O M: der König von Sandart
W I K A N T: der Weinfürst von Neiara
Y E R S: ein alter Fischer auf Arima
Z U K A T A: der älteste Sohn des Kaisers, ein gewalttätiger Räuber mit großen Träumen
Irgendwo dort liegt die Insel der Träume, Umgeben von tosenden Wogen. Goldweiß des Strandes und Nachtgrün der Bäume Verschmelzen zum flammenden Bogen.
Wer ihn durchschreitet, dem öffnen sich Pforten Zu frühlingsbunt blühenden Gärten, Kleepfade führen zu sommernden Orten, Die warme Vertrautheit bewahrten.
Berge erheben sich uralt und dunkel, Und Bäche wie Silber und Perlen Spielen zu Tale, umsäumt vom Gefunkel Des Taus auf den Blättern der Erlen.
Manche schon segelten mutig durch Meere, Ersehnten, was alle besingen; Einige baten den Wind, sie trotz Schwere Zu jener Insel zu bringen.
Wer ging schon fort ohne Angst, denn so viele, Die kehrten nach Hause, zerschlagen. Wenige kamen ans Ziel aller Ziele, Der Wind kann nur Seeschwalben tragen.
Ich aber stehe im Hafen und lausche Dem Ungestüm schäumender Fluten, Während dort oben Bergbäche rauschen In rotgoldnen Sonnenlichtgluten.
Liebster, wir machen uns gischtweiße Schwingen Und trotzen dem Sturm und den Wellen. Lass uns den Traum aller Träume erringen, Den Trank aus den ewigen Quellen.
1. Das Glück der Inseln
» D I EG L Ü C K L I C H E NI N S E L N « ,sagte der Kapitän. »Obst und Wein. Etwas Besseres findet Ihr nirgends.«
Zukata knurrte nur. Aus dieser Entfernung sahen die Inseln nicht bemerkenswert glücklich aus. Sie waren nichts als zwei blasse, farblose Erhebungen am Horizont. Von hier aus machte es keinen Unterschied, ob sie grün und fruchtbar waren oder schwarz und verbrannt.
»Welche Insel ist es?«, fragte er.
»Die rechte«, antwortete der Kapitän. »Das ist Arima.«
Man konnte jetzt die Steilküste auf der einen Seite erkennen; zur anderen Seite hin lief die Insel flach aus. Dort duckte sich eine Siedlung hinter die Dünen, im Hafen lagen einige kleine Segelschiffe und Boote vor Anker.
»Wir werden sie verbrennen, bevor sie wissen, was geschieht«, zischte Settan. »Wir werden über sie kommen, über die kleinen, dummen Fischer und Gärtner. Dann wird es dir wieder besser gehen, Herr.«
Zukata wandte ihm sein finsteres Gesicht zu. »Was weißt du davon, wie es mir geht? Was willst du davon wissen?«
»Ich … Herr, ich dachte nur …«
»Ich will an Land gehen«, bestimmte Zukata. »Aber nicht im Hafen. Und niemand unternimmt irgendetwas, bevor ich es sage.«
»Wir können ein Boot hinunterlassen …«
Auch den Kapitän der Perlentaucher brachte ein einziger Blick des Riesen zum Schweigen. Da er sich nicht auf die Rolle eines bloßen Befehlsempfängers reduzieren lassen wollte, und um den Respekt seiner Mannschaft nicht zu verlieren, tat er regelmäßig seine Meinung kund und bereute es jedes Mal wieder. In diesen Tagen gehörte Mut dazu, sich in Zukatas Nähe aufzuhalten.
»Ähm, dann – wie Ihr wollt …« Er entfernte sich schleunigst. Settan hielt treu aus. Ihn schickten die Räuber zu Zukata, wenn sie wissen wollten, wie es weiterging. Sie freuten sich schon darauf, nach dieser nervenzermürbenden Schiffsfahrt wieder festen Boden unter den Füßen zu haben und ihren Frust auf der Insel dort an den harmlosen Leuten auszulassen. Lange genug hatten sie auf engstem Raum miteinander ausgeharrt. Sie waren wie Jagdhunde, die darauf brannten, von der Kette gelassen zu werden. Und er würde sie jetzt bald loslassen, er würde sie auf seine Feinde hetzen.
Unter Zukatas grimmigem Blick wurde Settan klein. »Herr, ich dachte …«
»Ihr bleibt hier!«, befahl Zukata. »Kommt den Inseln nicht näher. Gebt den anderen Schiffen Bescheid!«
Er brauchte kein Ruderboot, um zu der Insel überzusetzen. In der Tat hatte der Plan, den er mit seinen Männern abgesprochen hatte, anders ausgesehen. Er hatte ihnen versprochen, mit drei Schiffen gleichzeitig anzulegen und das Werk der Verwüstung zu beginnen, während das vierte Schiff etwas weiter draußen blieb und darauf achtete, dass niemand entkam. Warum er ihnen jetzt befahl zu warten, warum er ins Wasser sprang und nach Arima schwamm, erklärte er keinem von ihnen. Ohne weiteres mutete er seinen Männern den Verzicht auf den ersehnten Landgang zu. Ob diese Insel zerstört wurde oder nicht und wann das geschah, entschied immer noch er.
Die Unruhe, die seinen ganzen Körper erfüllte, legte sich im kalten Wasser ein wenig. Auch er war zu lange auf diesem Schiff gewesen, statt schnellen Schritts durch die Wälder zu marschieren. Es tat gut, den Kampf gegen die Wellen aufzunehmen. Grün. Ja, er konnte jetzt sehen, wie grün sie war. Ein riesiger Garten, eine Perle mitten im Meer. Das war also der Ort, an den Blitz sich zurückgesehnt hatte, während sie miteinander unterwegs gewesen waren. Das hier war Blitz’ Heimat, das war der Ort, der seine Erinnerungen nährte, der ihm von weitem Kraft gab. Zukata hatte geschworen, Blitz zu verschonen, diesen kleinen Verräter, der ihn so enttäuscht hatte, aber er hatte nicht versprochen, ihn gänzlich unbehelligt zu lassen. Es gab auch andere Möglichkeiten, jemanden zu vernichten, ohne Hand an ihn zu legen. Irgendwann würde der Tag kommen, an dem Blitz nach ihm suchte, um ihn zu bitten, sein Leben zu nehmen statt das der anderen. Es würde ein Tag kommen, herrlich und grün, ein Tag, an dem Blitz vor ihn hingekrochen kommen würde, um ihn anzuflehen, die Strafe endlich zu vollziehen.
Dies war der Beginn. Er würde Arima zerstören, und was nützte es Blitz dann, dass er in Kirifas am Kaiserhof lebte und dort jedermanns Liebling war? Ein Hund, dem sie den Kopf tätschelten, weil er so brav gewesen war. Der Kaiser und die Kaiserin fütterten ihn, sie ließen ihn mit ihrer kleinen Tochter spielen, die Blitz aus Zukatas Händen gerissen hatte. Blitz lebte nun in diesem Schloss, das Zukata ihm als seinem Ziehsohn hatte öffnen wollen, lebte dort ohne ihn, dort, wo sie alle über den betrogenen Prinzen lachten.
Seine Füße fühlten Grund. Wütend schritt er den Strand hinauf, der an dieser Stelle steinig und menschenleer vor ihm lag. Zornig stapfte er auf all das herrliche Grün zu, auf diesen Garten im Meer, wo man Verräter aufzog, wo sie gediehen und gesund und stark wurden, um ihr elendes Werk zu beginnen.
Er drehte sich um und sah seine Schiffe weit draußen kreuzen. Blitz hatte sich mit dem Falschen angelegt. Überall im ganzen Kaiserreich hatte Zukata seine Leute. Diese Schiffe, die er zu seiner Zeit als Pirat gekapert hatte, waren jahrelang für ihn zur See gefahren. Einen Anteil der Beute hatten die Kapitäne stets für ihn zur Seite gelegt – keiner wagte je, ihn zu betrügen –, und niemand hatte Verwunderung geäußert, als er sie wieder in seinen Dienst gerufen hatte. In Jolis hatte er sie gefunden, dort, wo die Piraten ganze Dörfer ihr Eigen nannten, geduldet von einem König, der blind tat, nachdem er einmal gehörig erschreckt worden war. Man musste nur wissen, wie man mit den Leuten umzugehen hatte. Manche reagierten auf die Verlockung des Goldes besser als auf jede Drohung. Manche wurden empfindlich, wenn man auf ihre Familie zu sprechen kam. Aber irgendwann gehörten sie ihm alle. Alle ohne Ausnahme.
Er wandte sich dem felsigen Strandabschnitt zu, der zwischen großen Steinen in einen Wald überging.