Kursbuch 204. Группа авторов
Unparteiische, der beiden Seiten bescheinigt, wie sehr sie sich an ihre eigenen Vorurteile gewöhnt haben.
Wer nach diesem kalorienreichen Kursbuch immer noch Appetit verspürt, stößt auf Peter Felixbergers FLXX-Kolumne, die diesmal die Demokratie in einem Menü der Extraklasse kredenzt – garantiert ganz ohne braune Soße.
Der Brief eines Lesers ist dem Autor diesmal im Halse stecken geblieben – er fällt dem Überangebot an Kulinaria in diesem Kursbuch zum Opfer.
Heike Littger
Lagerfeuer
Mitten durch die Prärie neuer Foodtrends
Frankfurt im Oktober. Der Countdown läuft. Noch 73 Tage, dann muss das »Seven Swans« sterben. So steht es auf der Homepage von Ricky Saward und seinem Frankfurter Restaurant. Seit einem guten Jahr bietet der Koch nur das an, was er auf seinem Acker und im Wald drumherum findet. Gemüse, Obst, Beeren, Kräuter, Pilze. Bisschen Getreide. Kein Fleisch, keine Eier, keine Milch. Was er in der Küche nicht verarbeiten kann, landet wieder auf dem Feld. Brutal lokal, Farm-to-Table, No Waste. Das Konzept kommt bei den Gästen gut an, kaum ein Abend, an dem das Restaurant nicht ausgebucht ist. Im Frühjahr konnte Saward seinen Stern verteidigen, damit führt er das erste vegane Sternerestaurant der Welt, das grüne Kleeblatt für Nachhaltigkeit gab es obendrauf. Mehr »in« geht nicht. Doch der Koch hat das Trendgerede satt. »Entweder dich versteht keiner, dann wirst du runtergeschrieben. Oder die Leute finden es cool und wollen immer mehr und noch eine Schippe drauf. Da kann man persönlich nur verlieren.«
Foodtrends. Was ist angesagt? Was wollen wir heute, morgen und übermorgen essen? Welche Lebensmittel sind besonders begehrt und welche wollen wir so gar nicht mehr auf unseren Tellern sehen? Ist vegan in der Mitte der Gesellschaft angekommen? Wie sieht es mit alternativen Proteinquellen aus? Werden wir die Zeit, in der wir Tiere in Massen gezüchtet und geschlachtet haben, hinter uns lassen? Kurz: Uns bewusster, gesünder, regionaler, nachhaltiger ernähren? Wer hier nach Antworten sucht, kommt an Hanni Rützler nicht vorbei. Seit 2014 bringt die Trendforscherin jedes Jahr für 150 Euro ihren Foodreport heraus, der die kulinarischen Trends beleuchtet. Natürlich, einen Wandel der Esskulturen hat es immer schon gegeben, doch noch nie war er »so rasant, so radikal, so differenziert wie aktuell«. Rützler schreibt von einer Revolution, die da stattfindet, nicht nur hier in Deutschland oder Europa, sondern weltweit in allen Wohlstandsgesellschaften. »Nie konnten wir so frei über unser Essen entscheiden wie heute« – und die Menschen identifizieren und positionieren sich nicht nur mit dem und durch das, was sie essen, sondern auch mit dem und durch das, »was sie aus Überzeugung nicht essen«. Kein Qualfleisch. Keine Milch. Kein Import-Soja. Kein Palmöl. Keine industriell verarbeiteten Lebensmittel. »Als Veganer, Paleo-Jünger oder Clean-Eater weiß man sehr genau, welchen Platz man in der Gesellschaft einnimmt«, so Journalist und Buchautor Nils Binnberg.1 Und dieses Wissen gibt einem die vermeintliche Gewissheit, auf der richtigen Seite des Lebens zu stehen. Oder zumindest ein bisschen das Gefühl von Kontrolle: Was in der Welt da draußen passiert, kann ich nur bedingt beeinflussen, was in meinen Körper reinkommt, schon.
Um im Trenddschungel nicht den Überblick zu verlieren, versucht es Rützler mit einer Food-Trend-Map: 35 englische Begriffe über eine Doppelseite verteilt, manche in dünner, manche in etwas dickerer Schrift, die von sieben Megatrends in sieben Farben unterschiedlich stark umschlungen werden:
Brutal Lokal, Transparency und Seasonal Food gehören zu GLOKAL, NACHHALTIGKEIT und QUALITÄT. Ethno Food und Hybrid Food zu GLOKAL und GENUSS. Cell Cultured Food und Real Omnivores zu BEYOND FOOD und NACHHALTIGKEIT, Veganmania außerdem zu GESUNDHEIT. Spiritual Food, Clean Food und Plant Based Food zu GESUNDHEIT und ALLTAG …
Der Treiber für diesen Wandel ist für Rützler die jüngere Generation, »die das Ernährungsverhalten der eigenen Familie hinterfragt«. Sich auf die Suche nach Alternativen macht – und wenn sie sie nicht findet, kurzerhand auch mit eigenen Ideen auf den Foodmarkt tritt. Allein im vergangenen Jahr gingen hierzulande laut startupdetector 146 Food-Start-ups an den Start. Ein bunt gemischter Haufen aus Leuten mit den unterschiedlichsten Abschlüssen und Berufen. Überzeugungstäter, die ihren Job an den Nagel hängen, um jetzt endlich etwas zu verändern, bis hin zu Betriebswirtschaftlern mit Master in der Tasche, die bereits ein, zwei Unternehmen in anderen Branchen hochgezogen haben. Hinter ihnen bringt sich allmählich ein Heer aus Business Angels und Finanzinvestoren in Position, die den Foodmarkt zunehmend für sich entdecken. Dazu Handelskonzerne (REWE, EDEKA, METRO), Lebensmittelhersteller (Katjes, Bahlsen) und selbst TV-Sender (ProSiebenSat.1), die mit eigenen Beteiligungsgesellschaften und Inkubatoren an den Start gehen oder sich irgendwo andocken. Wer mit seiner Idee überzeugt, bekommt nicht nur Geld, sondern auch den Zugang zu Strategie-Workshops, Laborküchen, Lagerräumen, Coworking Spaces und Networking-Veranstaltungen. Manche Gründer besetzen Themen wie Überproduktion, transparente Lieferketten, Vertical Farming und direkte Vernetzung von Erzeugern mit Kunden. Doch die meisten tüfteln an eigenen Produkten. Schockgefrostete Bio-Bowls, Protein-Schokolade, Energie-Shots zum Trinken, kalorienarme Snacks, Powerriegel, Low Carb Pasta, Saftkuren zum Detoxen, Kaugummis mit CBD-Öl, Algensalat, Milch ohne Milch und immer wieder Fleischersatz. Zwei Beispiele seien stellvertretend herausgepickt, angesiedelt zwischen den Extremen In-vitro-Fleisch und Insekten und jenseits von Soja, Erbsen und Lupinen.
It’s all about Krebs: Lukas Bosch berät eigentlich Unternehmen in Sachen Zukunft. Doch als er in einem Zeitungsartikel über die handtellergroßen Sumpfkrebse las, die jedes Jahr in Horden durch den Berliner Tiergarten krabbeln, zählte er eins und eins zusammen. Die Stadt hat ein Problem: Die Tiere, irgendwann eingeschleppt aus Nordamerika, haben keine natürlichen Fressfeinde und verdrängen heimische Arten. Die Menschen haben ein Bedürfnis: Fleisch mit gutem Gewissen essen, aus artgerechter Haltung, am liebsten aus der Region, noch besser aus der eigenen Stadt. Warum also nicht aus der Plage ein Business machen?
Zusammen mit seiner Frau Jule, Trendforscherin, und Andreas Michelus, Koch, telefonierte er mit Binnenfischern. Probierte Rezepte aus. Besorgte sich einen silbrig glänzenden Foodtruck. Servierte die Krabben auf Events unter anderem in einer frisch gebackenen Sauerteigbrioche mit Dill-Mayonnaise, mariniertem Staudensellerie, rotem Zwiebelsalat. Und entdeckte in und um Berlin noch andere invasive Arten, die sich zu stark vermehren und lecker verarbeiten lassen: den nordamerikanischen Kamberkrebs, die Chinesische Wollhandkrabbe.
Corona hat dem Ganzen zwar ein jähes Ende bereitet, Events wurden abgesagt, der Truck wurde vermietet, doch Bosch arbeitet mit seinen Mitstreitern weiterhin an seiner Idee. Produziert Krabbenessenz, die man Saucen beimischen und in seinem Onlineshop kaufen kann. Liefert die Tiere an Berliner Restaurants – wenn denn in der Region gerade Fangsaison ist. Zukaufen aus China oder den USA kommt für ihn nicht infrage. Neuerdings ist er auch mit Supermärkten im Gespräch. »Die allermeisten Food-Trends zielen letztlich darauf ab, unsere Art des Essens nachhaltiger und gesünder zu gestalten«, sagt Bosch. »Und wir Start-ups können diese Trends befeuern, indem wir immer wieder Impulse setzen, die die Ernährungsgewohnheiten der Menschen verändern und dadurch auch die Großen zum Handeln bewegen.« So passiere es jetzt schon in der Mode. Und so werde es auch zunehmend im Bereich Food stattfinden.
It’s all about Pilz: Keine zehn Minuten vom Rathaus Schöneberg entfernt, in der Rosenheimer Straße 13, sitzt Mushlabs. Der Kopf dahinter: Mazen Rizk. Der Biologe arbeitete nach seiner Doktorarbeit über Biokraftstoffe bei einem Hefehersteller und entdeckte dort die wundersame Welt der Lebensmitteltechnologie. Heute versucht er, Pilzzellen, die er in großen Stahltanks mit sterilisierten Nebenprodukten aus der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft füttert (zum Beispiel Obstschalen, Reishüllen, Kaffeesatz), durch Fermentation in eine proteinhaltige und ballaststoffreiche Masse zu verwandeln. Welchen Pilz er dafür nimmt, ist geheim. Angeblich ist es einer, den man in jedem Supermarkt kaufen kann. »Ziel ist ein neues Nahrungsmittel mit besonderer Textur und einem eigenen Umami-Geschmack, das zudem einen positiven Einfluss auf unsere Gesundheit hat«, sagt Anne-Cathrine Preißer, die die Produktentwicklung seit Anfang des Jahres leitet. »Auf Zusätze wollen wir so gut es geht verzichten«, vor allem auf importiertes Soja, Palm- oder Kokosöl.
Im Sommer konnte das Start-up neben Atlantic Food Labs und Bitburger Ventures weitere Geldgeber von sich überzeugen, aus der Schweiz, aus Singapur, aus Kalifornien. Die Idee hat