Nikomachische Ethik. Aristoteles
auch nicht über die Person des Handelnden; denn wer kännte sich nicht selbst? dagegen wohl über das, was man tut, wie man z. B. sagt, es sei einem in der Rede ein Wort versehentlich entfallen, oder man habe nicht gewußt, daß es ein Geheimnis war, wie es dem Äschylus58 mit den Mysterien ging, oder man habe etwas zeigen wollen, eine Wurfmaschine z. B., und sie sei losgegangen. Man kann auch seinen Sohn für einen Feind halten wie die Merope59, oder meinen, eine Lanze, die in Wirklichkeit spitz ist, sei vorn abgerundet, oder ein Stein sei ein Bimstein. Es kann auch vorkommen, daß man zu seiner Verteidigung einen Schlag führt und damit den Gegner tödtet, oder daß man einem einen Hieb, wie ihn die Faustkämpfer führen, weisen will und ihn dabei niederstreckt.
Da es also in bezug auf alle diese Umstände der Handlung eine Unwissenheit geben kann, so scheint derjenige, der einen dieser Umstände nicht gekannt hat, unfreiwillig gehandelt zu haben, und dies um so mehr, je wichtiger die betreffenden Umstände sind. Als die wichtigsten erscheinen aber der Gegenstand und der Zweck der Handlung. Soll man indessen von jemanden wegen solcher Unwissenheit sagen können, daß er unfreiwillig gehandelt hat, so muß er auch über die Handlung Schmerz und Reue empfinden.
Drittes Kapitel.
Da unfreiwillig ist was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein: wessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, daß er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt. Denn es ist wohl verkehrt, wenn man als unfreiwillig bezeichnet was aus Zorn oder Begierde geschieht.
Denn, erstlich würden dann keine anderen Sinnenwesen mehr freiwillig, das heißt spontan, tätig sein und ebensowenig die Kinder.
Sodann fragte es sich, ob nichts, was aus Begierde und Zorn von uns geschieht, freiwillig getan ist, oder das Gute wohl, das Schimpfliche nicht. Das wäre doch lächerlich, da in beiden Fällen eine und dieselbe Ursache zu Grunde liegt. Auch wäre es wohl ungereimt, unfreiwillig zu nennen, was man doch zu begehren die Pflicht hat. Man hat ja die Pflicht über bestimmte Dinge sich zu erzürnen und andere, wie Gesundheit und Lehre, zu begehren.
Auch scheint das Unfreiwillige schmerzlich zu sein. Was aber aus Begierde geschieht, ist lustbringend.
Ferner, was ist für ein Unterschied zwischen einem Fehltritt mit Überlegung und einem Fehltritt aus Zorn, daß man sagen sollte, dieser sei unfreiwillig, jener nicht? Beide (1111b) soll man ja meiden, und die unvernünftigen Affekte scheinen doch um nichts weniger menschliche Affekte zu sein. Aus Zorn und Begierde entspringen aber die Handlungen des Menschen.
Also ist es ungereimt, Handlungen, die im Affekt geschehen, für unfreiwillig auszugeben.
Viertes Kapitel.
Nachdem wir das Freiwillige und Unfreiwillige erklärt haben, ist das nächstfolgende, daß wir den Begriff der Entschließung oder der Willenswahl erörtern60. Die Willenswahl scheint vor allem das Eigentümliche der Tugend auszumachen und noch mehr als die Handlungen selbst den Unterschied der Charaktere zu begründen.
Die Willenswahl ist etwas freiwilliges, fällt aber nicht mit dem Freiwilligen zusammen, sondern letzteres hat einen weiteren Umfang. Das Freiwillige oder Spontane findet sich auch bei den Kindern und den anderen Sinnenwesen, eine Willenswahl dagegen nicht; und rasche Handlungen des Augenblicks nennen wir zwar freiwillig, sagen aber nicht, daß sie auf grund vorbedachter Willenswahl geschehen sind.
Die aber sagen, sie sei Begierde oder Zorn oder Wille oder eine Meinung, scheinen nicht recht zu reden.
Denn die unvernünftigen Wesen haben an der Willenswahl keinen Teil, an Begierde und Zorn aber wohl.
Und wer an sittlicher Kraftlosigkeit leidet, handelt zwar aus Begierde, aber nicht aus vorbedachter Wahl, und umgekehrt handelt der Enthaltsame zwar aus freier Wahl, aber doch nicht aus Begierde.
Und die Begierde streitet mit der Willenswahl, doch die Begierde nicht mit der Begierde.
Und die Begierde hat es zu tun mit Lust und Unlust, die Willenswahl aber mit dem einen so wenig als mit dem anderen.
Noch weniger ist die Willenswahl mit Zorn oder Eifer identisch. Denn was im Zorn geschieht, scheint am allerwenigsten auf vorbedachter Wahl zu beruhen.
Aber auch Wille ist sie nicht, wenn auch anscheinend ihm verwandt. Denn es gibt keine Wahl des Unmöglichen, und sagte jemand, er erwähle es, so würde er für einen Thoren gelten. Dagegen gibt es ein Wollen des Unmöglichen, z. B. nicht zu sterben. Und das Wollen geht auch auf solches, was man selber gar nicht verwirklichen kann, z. B. daß ein Schauspieler oder Wettkämpfer den Sieg gewinne; dagegen wählt solches niemand, sondern nur das, was man durch sich selbst erreichen zu können glaubt. Ferner geht der Wille mehr auf den Endzweck, die Wahl auf die Mittel zum Zwecke. So wollen wir z. B. die Gesundheit, die Mittel dazu aber wählen wir, und wollen die Glückseligkeit und sagen, daß wir sie wollen, dagegen zu sagen, daß wir sie wählen, geht nicht an. Denn die Willenswahl scheint überhaupt nur da eine Stelle zu finden, wo etwas in unserer Macht steht.
Doch auch Meinung kann sie nicht gut sein. Eine Meinung scheint man von allem haben zu können, von dem Ewigen und dem Unmöglichen sowohl, wie von dem, was in unserer Gewalt steht. Sie wird nach Falschheit und Wahrheit, nicht nach bös und gut unterschieden, sondern hiernach wird vielmehr die Willenswahl eingeteilt. Und so wird denn (1112a) wohl niemand dieselbe für ganz identisch mit Meinung setzen.
Sie ist aber auch mit keiner bestimmten Meinung dasselbe.
Denn je nachdem wir das Gute oder das Böse wählen, haben wir eine bestimmte sittliche Qualität, aber nicht je nach unseren Meinungen.
Und durch die Willenswahl bestimmen wir uns, etwas uns eigen zu machen oder ihm aus dem Wege zu gehen oder zu sonst etwas dergleichen, eine Meinung aber haben wir darüber, was etwas ist, und wem es frommt oder wie; dagegen die Tatsache, daß wir uns etwas aneignen oder es meiden, ist selten Objekt unseres Meinens oder Nachdenkens.
Auch wird die Willenswahl mehr deshalb gelobt, weil sie auf das Rechte gerichtet oder recht beschaffen, die Meinung aber deshalb, weil sie wahr ist.
Und wir erwählen das, von dessen Güte wir vorzüglich gewiß sind; dagegen meinen wir etwas, wenn wir es nicht genau wissen.
Auch trifft nicht derselbe Mensch die beste Willenswahl, der die besten Meinungen hat, sondern bei Manchen sind die Meinungen besser, während sie aus Schlechtigkeit das wählen, was sie nicht sollen.
Übrigens ist es gleichgültig, ob die Meinung der Willenswahl vorausgeht oder ihr nachfolgt; denn dies steht nicht in Frage, sondern ob die Willenswahl dasselbe ist, wie eine gewisse Meinung.
Was ist also nun die Willenswahl und welcher Art, da sie keines der genannten Dinge ist? Offenbar etwas Freiwilliges. Aber nicht alles Freiwillige ist frei gewählt. Sollte sie also nicht jenes Freiwillige sein, das überlegt oder vorbedacht ist? Die Willenswahl erfolgt ja mit Verstand und Vernunft, und auch ihr Name scheint leise anzudeuten, wie es sich bei ihr darum handelt, daß etwas vor anderem gewählt wird.
Fünftes Kapitel.
Überlegt61 man alles, und kann jedes Ding überlegt werden, oder hat die Überlegung bei manchen Dingen keine Stelle? – Natürlich kann nicht das als ihr Gegenstand gelten, was etwa ein Thor oder Narr, sondern nur das, was der Verständige überlegt.
Das Ewige nimmt niemand in Überlegung, z. B. die Welt oder die Inkommensurabilität der Diagonale und der Seite. Auch nicht das, was im Bereich des Bewegten liegt, aber immer in derselben Weise vor sich geht,