Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann. Volker Halfmann
aus Liederbüchern singen ließ, sondern stattdessen einen Overheadprojektor verwendete, um die Texte an die Wand zu projizieren). Da es sich um eine Krankheitsvertretung und befristete Anstellung handelte, wohnten meine Frau Claudia und ich zunächst nicht in einer eigenen Wohnung, sondern bei Helmut und Sabine. Helmut war Mitglied der Gemeindeleitung und eben dieser Umstand bewahrte mich davor, bereits nach wenigen Wochen zu scheitern. Denn bevor Helmut mich überhaupt kannte, hatte er sich bereits fest vorgenommen, den zukünftigen Pastor nach allen Kräften zu unterstützen und ihm zur Seite zu stehen.
Durch Helmut habe ich letztlich begriffen, was die Bibel mit dem Begriff »Erwählung« meint. Und während ich mich durch diese erste schwere Zeit quälte, war es seine Barmherzigkeit, die mich davor bewahrte, einfach alles hinzuschmeißen. Seine Frau und er gehören zu den Menschen, die sehr genau hinsehen – und die fühlen, was sie sehen. Das Leid ihrer Mitmenschen geht ihnen zu Herzen, sodass sie sich mit allen Kräften einsetzen, um zu trösten, zu ermutigen, zu verbinden und zu heilen. Für eine geschundene Seele sind solche Menschen Balsam. Und das waren sie auch für mich. Wie oft haben sie mich bestätigt, beraten, gesegnet oder einfach in den Arm genommen.
Und noch eine barmherzige Samariterin gilt es zu nennen, durch die ich heute dieses Buch schreiben kann: meine Frau Claudia. Ich weiß, dass sie dies überhaupt nicht gerne mag, denn Claudia ist – wie jeder Mensch – nicht perfekt. Und sie weiß um ihre Schwächen. Darum mag sie es nicht, wenn andere auf sie das Bild einer tadellosen, vorbildlichen Heiligen projizieren. Ich kann Ihnen versichern: Das ist sie nicht! Dennoch war es an der entscheidenden Stelle meines Lebens ihre Barmherzigkeit, die mich ermutigt hat, mir helfen zu lassen, statt mich einfach aufzugeben.
Bedingt durch die psychische Erkrankung sowie meine Alkoholabhängigkeit erhielt ich später von der Arbeitsagentur die Möglichkeit einer Umschulungsmaßnahme. So zogen wir als Familie von Unterfranken ins Ruhrgebiet und ich begann mit einer Ausbildung zum Medienkaufmann. Als dann jedoch immer klarer wurde, dass ich den mir anvertrauten Aufgaben nicht gewachsen war und mein Ausbildungsbetrieb keinen dauerhaften Arbeitsplatz für mich haben würde, kam es bei mir zu einem seelischen und körperlichen Zusammenbruch. Mein Alkoholkonsum geriet völlig außer Kontrolle und am Ende fand ich mich in der Psychiatrie wieder. Dieser zweite Tiefpunkt war für mich noch entsetzlicher als der erste, denn schließlich hatte ich eine Chance bekommen, mein Leben in den Griff zu kriegen – und nun hatte ich es völlig verkackt.
Ich weiß, dass meine Frau damals nicht nur besorgt um mich war, sondern auch enttäuscht und wütend – und das völlig zu Recht. Ich hatte unsere Zukunftsträume vor die Wand gefahren, sie immer wieder belogen und tief verletzt. Ich hätte es darum sehr gut verstanden, wenn sie sich von mir abgewendet hätte, um sich selbst zu schützen. Doch das tat sie nicht. Stattdessen blieb sie an meiner Seite und unterstützte mich, wo immer sie konnte.
Ich werde nie vergessen, wie wir gemeinsam durch unseren damaligen Wohnort Hattingen-Welper spazierten (wir gingen über den Friedhof – ein Ort, an dem man wirklich zur Ruhe kommt und zudem an die eigene Sterblichkeit erinnert wird). Einige Tage zuvor hatte Claudia mich mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht und nun sprachen wir darüber, wie es mit mir weitergehen sollte. Ich empfand eine abgrundtiefe Scham und Ekel vor mir selbst. Und Claudia packte mich nicht in Watte. Vielmehr erklärte sie mir klipp und klar, dass sie nicht länger bereit sei, dies alles mitzumachen. Doch dann kam ein Satz, der sich mir sehr tief eingeprägt hat: »Volker, Gott hat dich nicht aufgegeben, ich habe dich nicht aufgegeben und du solltest dich auch nicht aufgeben!«
Damals hatte ich keinerlei Perspektive für mein Leben, aber durch die Zuwendung meiner Frau schöpfte ich neue Hoffnung.
Barmherzigkeit hat mir eine Zukunft eröffnet!
Barmherzigkeit hat mir Gottes Liebe gezeigt
Ich habe mir Gott nicht ausgesucht, er war einfach da, immer schon. Die Verkündigung dieses Gottes gehörte für meine frühkindliche Seele zu den Grundnahrungsmitteln, ich habe ihn gleichsam mit der Muttermilch aufgesogen. Doch für meine traumatisierte Seele war diese Milch das reinste Gift. Aufgrund meiner Zwangserkrankung entstand in mir ein furchtbares Gottesbild, das mir das Leben zur Hölle machte. Für mich war Gott ein grausamer und gnadenloser Sklaventreiber. Einer, der mich, ohne mit der Wimper zu zucken, auspeitschen würde, sobald ich einen Fehler machte. Beispiele seines schrecklichen Zorns gab es ja im Alten Testament zur Genüge.
Dennoch wäre ich damals nie auf den Gedanken gekommen, vor diesem Gott zu fliehen, um mein eigenes Leben zu leben. Denn wohin sollte ich denn fliehen, wenn er mich von allen Seiten umgab und sogar alle meine kranken und gotteslästerlichen Gedanken kannte? 7 Ich war mir sicher: Einen solchen Fluchtversuch hätte ich wie seinerzeit der Prophet Jona mit einer persönlichen Katastrophe bezahlt.
Also blieb ich über viele Jahre bei Gott und wurde sogar seine Stimme: Ich ließ mich zum Pastor ausbilden und übte diesen Beruf knapp 15 Jahre lang aus. Doch dann wurden meine psychischen Probleme so stark und die Abhängigkeit vom Alkohol so offensichtlich, dass ich eine Auszeit brauchte. So ging ich für mehrere Wochen in eine psychosomatische Klinik, die sich auf die Arbeit mit Suchtkranken spezialisiert hatte. Durch die Therapie kamen meine verdrängten Gefühle immer stärker an die Oberfläche, vor allem der über Jahre gebunkerte Zorn. Schon lange brodelte es in mir wie in einem Vulkan, in der Klinik kam es schließlich zum Ausbruch.
Der Gott, den ich bis dahin gekannt hatte, hatte mir die Luft zum Atmen genommen und mein Leben immer wieder klein gemacht. Als mir dies so richtig bewusst wurde, kannte mein Zorn keine Grenzen mehr. Auf Anraten meines Therapeuten schrieb ich einen Brief an Gott, in dem ich radikal und schonungslos mit ihm abrechnete. Ich schickte diesen Brief sogar an eine christliche Zeitschrift in der Hoffnung, dass er veröffentlicht würde (was zwei Jahre später tatsächlich geschah) 8. Und als ich die Klinik endlich einmal für ein paar Stunden verlassen durfte, fuhr ich sofort in die Großstadt, klaute bei »H&M« ein Herrenarmband aus Leder und hielt es diesem Gott triumphierend vor die Nase: »Siehst du und begreifst du endlich, dass du mich nicht mehr kleinkriegst mit deinen endlosen Geboten und Strafandrohungen? Es ist ein für alle Mal vorbei. Ich lasse mich von dir nicht mehr einschüchtern. Ich lebe jetzt ohne dich!«
Zugleich hatte ich jedoch schreckliche Angst, dass dieser grausame Himmelsdespot irgendwann erbarmungslos zurückschlagen würde. Er würde mich hart strafen für meinen Ausbruch. Und ich wusste, dass er mich am empfindlichsten treffen konnte, wenn er nicht mir etwas antat, sondern stattdessen meiner Familie – meiner Frau oder meinen Kindern. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und wollte doch nie mehr zurück zu diesem furchtbaren Gott. Kurze Zeit nachdem ich aus der Klinik entlassen worden war, beantragte ich bei der Arbeitsagentur die schon erwähnte Umschulung und versuchte, diesen Gott aus meinem Leben zu verbannen. Ich wollte endlich mein eigener Herr sein.
In der Folgezeit blieben die von mir befürchteten Plagen Gottes aus. Stattdessen erfuhr ich sehr viel Gutes: So wohnten wir in einem perfekten kleinen Zechenhaus, von dem aus ich mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren konnte. Meine Frau fand eine Arbeitsstelle als Erzieherin und ich eine ortsnahe Selbsthilfegruppe, in der ich herzlich aufgenommen wurde. Unsere Kinder kamen im Kindergarten und in der Schule immer besser zurecht und schlossen neue Freundschaften. Es ging uns wirklich gut in dieser Zeit. Dennoch scheiterte ich am Ende kläglich mit dem Versuch, mein Leben aus eigener Kraft wieder auf die Reihe zu kriegen. Ich hatte einen Rückfall, landete in der Psychiatrie und heulte mir die Augen aus.
Wieder einmal dachte ich darüber nach, meinem Leben ein Ende zu setzen. Nachdem meine Familie mich besucht hatte, ging ich in die Kapelle der Klinik und schrie mit dem Mut der Verzweiflung um Hilfe. Alle meine Fragen und Zweifel zählten in dieser Situation nicht mehr. Wie der blinde Bartimäus schrie ich zu Jesus: »Herr, erbarme dich meiner!«
Was daraufhin geschah, hat sowohl mein Gottesbild als auch mein Leben verändert: Ich habe Gottes Barmherzigkeit erfahren! Gott hörte mein Schreien und zog mich aus dem Schlamm. Er verband meine inneren Wunden, erfüllte mein nach Liebe und Annahme suchendes Herz und gab mir die Kraft, wieder aufzustehen. 9
Heute weiß ich, dass Gott fühlt, was er sieht, und darum tut, was er kann. Deshalb bekenne ich gemeinsam mit König David: »Barmherzig und gnädig