Die Legende von Arc's Hill. Michael Dissieux
Stille, die ihn verspottete und zerriss.
Er war nicht mehr er selbst. Er war ein Fremder, der ihn verhöhnte und sich an seinem eigenen Leid labte.
Immer wieder tauchten ihre Gesichter vor seinen schmerzenden, schwarz geränderten Augen auf, wie Geister aus längst zerfallenden Zeiten.
Das wunderbare, weiche Antlitz von Olivia, das ihn seit der Schulzeit fast sein gesamtes Leben begleitet hatte, und dessen Lachen ihn selbst an einem stürmischen Regentag verzaubern konnte.
Wie hatte er es geliebt, dieses wie in kostbaren Marmor gearbeitete Gesicht zu berühren, zu liebkosen und zu streicheln, in ihren hellen und klaren Augen wie in einem beruhigenden Bergsee zu versinken und den weißen Grund ihrer Seele zu erforschen. Jedes Mal entdeckte er etwas Neues und Liebreizendes an ihr. Er genoss den Duft ihrer Haut und das Aroma ihrer Haare, und ließ sich von ihr zu Welten jenseits jeder Vorstellungskraft entführen.
Dann erschien Susan im trüben Nebel seiner Erinnerungen.
Seine kleine Tochter.
Ihre gemeinsame Tochter …
Das gleiche ebenmäßige Antlitz, das gleiche Lächeln, die gleichen hohen Wangenknochen und die gleichen blonden Locken wie Olivia.
Wenn Mike in der Tiefe seines finsteren Abgrunds ihr Lachen hörte, fern und vergänglich, mit dem Echo des Verlorenen behaftet, hatte er das Gefühl, einen kurzen Blick in den Himmel werfen zu dürfen.
Diese Schmerzen …
Diese Finsternis tief in seiner Seele, in der zeit seines Lebens Lichtschein vorgeherrscht hatte.
Seine Familie war der Mittelpunkt einer Welt gewesen, die weitaus imposanter und gigantischer war als alle strahlenden Welten jenseits der Sterne, und die ihn mit starken Armen und verführerischen Düften in einer Welt am Leben erhielt, die ihr Glück voller Neid und Missfallen betrachtete.
Die schreckliche Frage, welch grauenvolle und widerwärtige Kreatur das Schicksal sein mochte, konnte sich Mike in den Orgien seiner von Alkohol geschwängerten Nächte nicht zu genüge beantworten. Er kam zu dem niederschmetternden Entschluss, dass der menschliche Verstand in seiner Beschränkung nicht dazu geschaffen war, das verkommene Wesen dieser Bestie zu erfassen, die unser aller Leben in ihren schuppigen Klauen hielt und unbarmherzig mal an diesem, mal an jenem Faden zog. Und all dies nur, um sich selbst an der grauenvollen Abartigkeit seines Handelns zu laben und ein weiteres glückliches und erfülltes Leben mit einem simplen Wimpernschlag auszulöschen.
Doch der Dämon war nicht dazu in der Lage gewesen, Mikes Leben vollständig auszublenden.
Er hatte ihm Olivia und Susan genommen. In einer Nacht, die kalt und neblig war, und in der beide über eine einsame Straße liefen, die sich in jener Nacht als perverser Spielplatz des Dämons entpuppte.
Eine Zeit lang hing Mike willenlos und gebrochen an den Fäden seines absonderlichen Gegenspielers und wartete voller Sehnsucht darauf, dass sich endlich die richtige Schnur um seinen Hals legen und ihn mit Olivia und Susan wieder vereinen würde.
Doch dieser Wunsch war zu banal für den grinsenden Dämon, als welchen Mike das Schicksal seines Lebens mittlerweile betrachtete. Er beschloss, in einem eigensinnigen Aufbäumen seiner Selbstachtung, sich nicht auf das niedere Spiel jenes unsichtbaren und pervertierten Wesens einzulassen.
Mit Gedanken erfüllt, die nicht seinem eigenen Verstand zu entstammen schienen, beschloss Mike, all den Erinnerungen an seine lebendige Zeit den Rücken zu kehren. Denn so viel Alkohol er auch zu trinken vermochte um seine Sinne zu betäuben, so musste er sich eingestehen, dass die Geister seiner Frau und Tochter noch immer durch die Hektik einer grellen Stadt wandelten, die er einmal als Heimat bezeichnet hatte.
Alles, was er in seinem sterbenden Dasein noch tun konnte, war, diesem dunklen Sumpf, in dessen Tiefen sein Leben allmählich versank, den Rücken zu kehren.
Und er hoffte inständig, dass er die lieblichen Geisterwesen seiner Liebsten in den modernen Häuserschluchten Londons zurücklassen konnte.
So erreichte Mike Osmond am Nachmittag eines verregneten Tages einen kleinen Ort am Rande der Welt; abgeschnitten von jeglicher Zivilisation und scheinbar vergessen von der Zeit.
Bislang war Mike der naiven Auffassung gewesen, dass in der Hektik moderner Zeiten und karriereorientierter Menschen ein Städtchen wie Arc´s Hill unmöglich existieren konnte. Doch als er die schmale Straße durch den Wald westlich von Durham befuhr und die Schatten der Bäume nach einigen Meilen ungewöhnlicher Stille den Blick auf jenen fremdartigen und nicht vorstellbaren Ort freigaben, wurde Mikes taumelnder Verstand eines Besseren belehrt. Er schien die Zeit, wie er sie bisher gekannt und definiert hatte, hinter sich zurückgelassen zu haben.
Arc´s Hill lag etwa fünf Meilen westlich von Durham, einer kleinen, beschaulichen Stadt mit hellen Straßen und gepflegten Häusern. Als Mike Arc´s Hill an diesem Herbsttag erblickte, erschien es ihm, als habe er mit Durham die letzte Bastion von Zivilisation und Gesittung verlassen und sei in ein vergessenes Zeitalter eingetaucht.
Eingebettet in den gigantischen, dunklen Schoß schroffer Gebirgsfelsen, die sich steil und unwirtlich in einen beinahe schwarzen Himmel erstreckten, kauerte der Ort wie ein kränklicher Fötus in den Schatten des dunklen Gesteins. Eine Straße aus schmutzigem Kopfsteinpflaster schlängelte sich, leblosem Gewürm gleich, den Hügel hinab, hinein in die Schatten elender Häuserschluchten. Niedrige, windschiefe und dem Zerfall dargebotene Bauten schmiegten sich in letzter verzweifelter Zuneigung aneinander und harrten der Zeit des Vergessens. Über den mit Moos bewachsenen Schindeln der Dächer stach der schwarze Finger eines Kirchturms in den düsteren Leib tiefhängender Wolken, als versuchte Arc´s Hill sich mit Gottes Hilfe gegen den unwiderruflichen Niedergang aufzulehnen.
Das Städtchen glich dem bizarren Gemälde eines entarteten Künstlers. Als wäre der Teufel selbst aus der Hölle gestiegen, um die Erde mit Trostlosigkeit zu strafen.
Was Mike vom Rand des Waldes aus erblickte, wirkte leblos und verlassen.
Nichts rührte sich.
Ein erdrückendes Schweigen hing tief in den Gassen von Arc´s Hill. Mike hatte das Gefühl, sein Blick würde über ein steinernes, verrottetes Grab schweifen, das sich mit letzter Kraft dagegen wehrte, in die harte, ungeweihte Erde gezogen zu werden.
Der Anblick der tristen Häuser und schwarzen Bänder enger und verborgener Gassen ließ ihn erschaudern. Alles wirkte verlassen und tot, bar jeglichen Lebens. Selbst die Luft schien still und verkommen über den von Regen glänzenden Dächern zu verharren.
Doch genau das war es, was Mike zu finden erhofft hatte. Denn in einem Ort, von allen Zeiten vergessen, an dem die Erinnerung aller jenseits des Waldes lebenden verblasst, würden die scharfen, nadelfeinen Zähne des Schmerzes sich vielleicht nicht mehr so tief in seiner geschundenen Seele verbeißen. Am Ende der Welt hoffte er vergessen zu können, was ihm die alte Welt, die er einst liebte und pflegte, auf so niederträchtige Weise genommen hatte.
Der Mensch geht merkwürdige Wege, um zu vergessen, dachte Mike, während er diesen als wagemutig zu bezeichnenden Schritt heraus aus der zivilisierten, modernen und lärmenden Welt, hinein in den schweigsamen, fast reglos zu nennenden Landstrich unternahm. Dabei keimte ein Gefühl in ihm, das eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Furcht vor dem Namenlosen darbot. Welche Empfindung in ihm überwog, darüber wagte er in diesen ersten Minuten nicht nachzudenken.
Vielleicht wollte sich Mike an jenem kalten Herbsttag, als er Arc´s Hill erreichte, nicht eingestehen, dass etwas Bedrohliches von diesem Ort ausging. Er versuchte zu vermeiden, dass seine Illusion von Vergessen und Neubeginn durch infantile Gedankengänge zerstört wurde.
Doch ahnte er damals schon in den Tiefen seines Bewusstseins, weit unterhalb der Oberfläche seines Denkens, dass dort etwas war. Es lauerte über den flachen Häusern mit ihren dunklen Dächern und steinernen Kaminen, die düster in das schwindende Grau des Tages ragten. ein giftiger Dunst, der den Ort wie eine unsichtbare Beklemmung