Sieh mich jetzt. Sandra Schwartz L.

Sieh mich jetzt - Sandra Schwartz L.


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er hat sich bestimmt nur ein wenig erschreckt.“

      „Du kannst gut mit Kindern umgehen,“ sagt er und klingt als ob er denkt, das wäre was besonderes.

      Ich zucke die Schultern. „Ich habe zu Hause einen kleinen Bruder.“

      „Ah, das habe ich mir gedacht. Ich habe mir immer Geschwister gewünscht.“

      Er klingt so süß und aufrichtig, dass ich einen Kloß im Hals bekomme. „Das verstehe ich gut. Ich würde meinen kleinen Bruder gegen nichts auf der Welt tauschen.“

      Ich schlucke, will jetzt absolut nicht weinen. Das wäre albern.

      Stattdessen zwinge ich ein Lächeln hervor. „Es kann zwar sein, dass du nicht gut mit kleinen Kindern umgehen kannst, aber du bist echt gut mit dem Hackysack. Das ist cool.“

      „Das ist nicht so schwer,“ sagt er, aber sieht stolz dabei aus.

      „Was ist los, Balls?“, ruft einer der Jungs. Er hat alles gesehen.

      Ohne sie anzusehen, hebt er einen Arm und zeigt ihnen den Mittelfinger.

      „Balls?!“, sage ich und kichere.

      Er zieht eine Grimasse. „Kranke Form von Humor, oder? Das ist wegen des Hackysacks. Ich laufe immer mit ihm in der Tasche rum.“

      Ich grinse. Wir stehen da und keiner von uns weiß richtig, was er sagen soll.

      Dann streckt er seine Hand nach meinem Gesicht aus, zögert Millimeter davor.

      Ich ziehe den Kopf zurück.

      „Du hast da Mascara. Der ist wohl nicht wasserfest, oder wie das nun heißt,“ sagt er und senkt die Hand wieder.

      Meine Wangen brennen und ich drehe mich etwas weg, während ich erst unter dem einen und dann dem anderen Auge reibe. Kann fühlen, dass es überhaupt nicht hilft und dass ich den Mascara stattdessen nur noch mehr verwische.

      Hier steht er und sieht total gut aus, während ich furchtbar aussehe mit verschmiertem Mascara unter den Augen.

      Und er sieht mich einfach weiter an.

      „Hör auf so zu starren. Das ist nicht fair, wenn ich so scheiße aussehe.“

      Er lächelt mich an.

      „Scheiße würde das bestimmt schlimmer machen, vielleicht siehst du eher wie eine ertrunkene Maus aus … eine müde, ertrunkene Maus?“

      Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, das zu tun. Aber ich tue es wirklich. Strecke ihm die Zunge raus, obwohl ich ihn gar nicht kenne und werfe ihm dann meinen tödlichsten Blick zu.

      Er reißt die Augen in gespielter Angst auf. „Okay … eine ertrunkene, müde Killermaus!“ Er grinst, hört dann aber auf, zögert, bevor er mit einem Lächeln sagt: „Nein, im Ernst, für eine Killermaus siehst du echt süß aus.“

      Ich sehe ihn überrascht an und wenn er nicht von Natur aus schon so dunkel wäre, würde ich schwören, dass er hinter seinem Lächeln rot wird.

      Sofort tönen Pfiffe und Gejohle von den Jungs, mit denen er zusammen unterwegs ist.

      „Landest du bei ihr?“, ruft einer.

      „Komm schon, wir wollen weiter!“, ruft ein anderer.

      Er sieht zu ihnen rüber, winkt und steht auf.

      Ich bewege mich auch.

      „Ähm, also, bis dann,“ sagt er und fährt sich mit seiner Hand durchs Haar.

      „Ja,“ murmele ich. „Ja, also tschüss.“ Ich drehe mich um und gehe zu der Bank, auf der noch meine Jacke liegt.

      Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass er zu seinen Freunden vor FONA geht. Sie grinsen und puffen ihn an, und sehen alle zu mir rüber.

      Ich schnappe meine Jacke und ziehe sie schnell an, um dann zum Ausgang zu gehen. Ich würde ihm gerne nachsehen, traue mich aber nicht. Hallo, ich weiß ja nicht, wer er ist, nicht einmal, wie er heißt.

      „Hey,“ ruft eine Stimme. Das ist er.

      Ich drehe mich um. Kurz darauf fliegt etwas auf mich zu. Ich fange. Es ist der Hackysack.

      „Behalt ihn,“ ruft er. „Bis bald.“

      Kapitel 3

      Stille lärmt mir entgegen, als ich die Haustür öffne und alles schnürt sich mir innerlich zusammen. Aber dann höre ich den Fernseher und die wohlbekannten Stimmen, Lightning McQueen und Hook.

      Ich streife die Stiefel ab. Hänge meine Skijacke nachlässig an den Haken, der schon übervoll an Klamotten ist. Stopfe den Hackysack in die Tasche meines Kapuzenpullis. Als ich mich in Richtung Wohnzimmer in Bewegung setze, sehe ich aus dem Augenwinkel meine Jacke auf den Boden fallen. Ich drehe mich um, um sie aufzuheben, lasse es aber. Ich muss ganz sicher sein.

      Er sitzt vor dem Fernseher, viel zu nah davor mit gebeugtem Nacken und offenstehendem Mund. Mit seinem schwarzen Halstuch und den coolen Totenköpfen, dem Superman-Pyjama und seinem Bären Brun ähnelt er einer verwirrten Mischung aus Pirat, Superheld und einem, der gerade aufgestanden ist.

      „Hi Madsen,“ sage ich, hocke mich hin und ziehe ihn für eine Umarmung an mich.

      Er murmelt Proteste in meine Schulter und versucht, sich aus meinem Griff zu winden, damit er Fernsehen kann. Das ist verrückt, weil er den Film schon hundert Mal gesehen hat und er ihn in- und auswendig kann. Ich grinse und halte ihn fest. Es braucht nicht mehr viel und er gibt auf, und hängt schlaff in meinen Armen. Er ist warm und besteht aus lauter feinen Kanten.

      Mama kommt rein und setzt sich zu uns auf den Boden. Sie bringt den Geruch von Gulasch mit sich. Selbst gemacht. Der hat bestimmt den ganzen Tag vor sich hin geköchelt. Dafür hat sie nun Zeit, da sie mit Mads zu Hause ist.

      „Hi, Mama. Sollte er nicht mal was anderes als den Film sehen?“ Ich nicke zu Mads, der nichts mitbekommt.

      Mama schüttelt den Kopf. Sie lächelt, sieht aber müde aus. „Habe ich versucht, aber er will nichts anderes sehen … und wenn es ihm eine Freude macht, dann …“ Mama spricht nicht weiter, zuckt nur die Schultern.

      „Hattest du einen schönen Tag?“, fragt sie, während sie eine Hand auf Mads Stirn legt, um zu prüfen, ob er Fieber hat.

      „Mmh,“ sage ich und weiche ihrem Blick aus. Stecke eine Hand in die Tasche und streiche über die flache Oberfläche des Hackysacks und die kleinen Körner darunter.

      Ich habe Lust, Maja anzurufen, aber sie hat nicht auf die SMS geantwortet, die ich ihr auf dem Heimweg vom Center geschickt habe. Durch die Fensterfront im Wohnzimmer kann ich sehen, dass sie zu Hause ist. Es ist Licht in ihrem Zimmer auf der anderen Seite der Hecke.

      Wir waren schon immer Freundinnen, länger als ich mich erinnern kann. Unsere Eltern sind auch Freunde. Wenn wir alle zusammen sind, tischen Majas Mutter und Vater im Laufe des Abends immer die Geschichte auf, wie wir Freundinnen wurden. Das misslingt nie. Ich habe die Geschichte so oft gehört, dass ich das ganze vor mir sehen kann, obwohl ich erst drei Jahre alt war.

      Es war Sommer, warm und ich war nackt. Stand im Garten auf unserer Seite, wo damals nur die Sprösslinge der Hecke zwischen unseren Grundstücken waren. Ich starrte Maja an, ihre beiden Zwillingsgeschwister, Malene und David, und eine Menge anderer Kinder in feiner Sommerkleidung, die nur wenige Schritte von mir entfernt spielten. Majas Familie hielt ein Gartenfest. Ich erinnere mich, dass ich lange Zeit so dastand. Halb versteckt hinter unserem Apfelbaum. Irgendwann kam Majas Mutter mit Bonbons für die Kinder raus. Sie bemerkte mich und bittet Maja, mir eins anzubieten.

      „Hier,“ sagte sie und streckte mir die weiße Papiertüte entgegen. Ich kam hinter unserem Baum hervor, nahm eins und steckte es in den Mund. Maja ging wieder mit der Tüte zu ihrer Mutter und kurz darauf gingen alle auf die andere Seite des Hauses. Anstelle in unserem eigenen Garten zu bleiben, folgte ich ihnen und sah, wie die Kinder und Majas Mutter ihre Plätze am aufgestellten Gartentisch


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