Der Gang unter der Erde. Hans Hyan

Der Gang unter der Erde - Hans Hyan


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bilden. Was er aber nicht gewußt hat, das ist die ebenso unumstößliche Tatsache, daß ein mehrfach getragener Handschuh besonders an den Fingerkappen Linien aufweist, die ebenso wie die Papillaren zur Rekognoszierung dienen können.“

      „Und diese doch wohl für das bloße Auge kaum wahrnehmbaren Spuren, die haben Sie auch festgestellt, Herr Doktor?“

      „Ja. Ich habe sie sofort mit Argentol, einem Silber-präparat, bestreut und fixiert, sie dann fotografiert und diese Abdrücke nach einem sehr interessanten Verfahren zwischen feinen Zelluloidblättchen konserviert. Wenn es uns gelingt, den Mann zu finden, und er nicht etwa die Handschuhe fortgeworfen hat (woran ich nach meinen früheren Erfahrungen nicht glaube), so werden wir ihn durch diese Abdrücke und Fotos überführen.“

      Der Konsul atmete hörbar.

      „Und Sie meinen, Herr Doktor“, fragte er und konnte nur schwer und mit Pausen, so aufgeregt war er, sprechen, „Sie meinen, daß der Mensch einer von meinen Angestellten ist?“

      Splittericht nickte mehrmals.

      „Jawohl, Herr Konsul. Das ist für mich eine unverrückbare Wahrheit: Der zweite oder wahrscheinlich der dritte Mann war jemand, der in Ihrem Büro schon längere Zeit tätig ist.“

      „Ich habe hundertsechsunddreißig Angestellte“, sagte der Konsul eintönig, „hundertsechsundzwanzig sind davon dauernd in der Bank, zehn sind Vertreter und Außenangestellte. Aber sie können ebensogut wie die anderen jederzeit sich im Büro aufhalten —“

      „— und kommen ebensogut wie die übrigen für das Verbrechen in Frage“, vollendete der Doktor-Kommissar.

      „Wo soll man da ansetzen?“ fragte der Chef des Bankhauses mutlos. Er schwieg eine Weile und fuhr dann mit umflorter Stimme fort:

      „Das alles ist schrecklich, lieber Herr Doktor, und doch erregt es mich weniger und wühlt mich nicht so in meinen Tiefen auf wie das, was ich Ihnen mitzuteilen habe. Wollen Sie mich, bitte, anhören?“

      Doktor Splittericht neigte den Kopf und vermied es, seinem Gegenüber ins Gesicht zu sehen, denn Konsul Hermann kämpfte mit den Tränen.

      VII

      Hundert weiße Milchglaskugeln, die von der Decke der großen Halle in der Villa Hermann herniederhingen, beleuchteten eine Gesellschaft, die sich aus den Spitzen der Behörden, der Industrie, aus Militärs, Gelehrten und Künstlern, lauter prominenten Persönlichkeiten, zusammensetzte.

      Man saß bei Sekt und Nachtisch an der hufeisenförmigen Tafel am oberen Ende des Festraums, und die Kapelle, hinter Rosen und Lorbeer versteckt, spielte moderne Komponisten.

      Aber schon tänzelten die Zigeuner des Bela Janos herein, nach dem großen Tanzparkett hinüber auf der Südseite der Halle. Und kaum sangen ihre Geigen die ersten Weisen, so schwebten auch schon die Paare über das spiegelnde Getäfel des Parketts.

      „Wirklich, es ist ein ästhetischer Anblick“, sagte Oberregierungsrat Henderson zu der Baronin Korf, die gleich ihm das Zusehen beim Tanzen höher schätzte als das Tanzen selbst.

      „Aber was ist mit unserem Wirt?“ fragte die Dame dagegen, „ich habe Konsul Hermann noch nie in einer so bedrückten Stimmung gesehen.“

      „Wundern Sie sich darüber, gnädige Frau?... Ich glaube, wenn mir anderthalb Millionen gestohlen würden, würde ich ganz anders lamentieren.“

      „Also ist es wirklich wahr, Herr Oberregierungsrat ... anderthalb Millionen? Ich habe gedacht, die Fama macht da auch wieder aus der Mücke einen Elefanten.“

      „Nein, da ist nichts übertrieben. Wir, ich und meine Leute, wir sind ja mit der Sache so eng befaßt, daß wir es schon wissen müssen.“

      Der Brillantstern in dem fast weißen Haar der Dame zitterte funkelnd, als sie interessiert nickte.

      „Ich bin wahnsinnig neugierig, Herr Oberregierungsrat! Haben Sie denn überhaupt einen Verdacht auf irgend jemanden?“

      „Bis jetzt nicht, leider! Wir wissen eigentlich noch so gut wie gar nichts. Und ich sitze hier wie auf Kohlen, gnädige Frau. Ich erwarte jeden Augenblick den Anruf eines meiner Herren, der heute abend mit einem ganzen Heer von Beamten auf Streife ist, um den zweiten Täter zu fassen.“

      „Den ersten, den haben Sie tot aufgefunden, nicht wahr? ... Das habe ich in der Mittagszeitung gelesen ... um Gottes willen, wie schrecklich ist das! In was für einer wilden Zeit wir doch leben! Ein Mord gilt heute kaum noch so viel wie früher ein einfacher Diebstahl.“

      Herr Henderson nickte:

      „Ja, das merken wir am besten. Die Kriminalpolizei ist mit Arbeit überlastet, und dann beschimpft man uns noch obendrein, wir bekämen nichts raus!“

      Ein Tanzpaar ging an den Plaudernden vorüber. Er ein ausnehmend kräftiger Mann mit hoch und frei getragenem Kopf, unter dessen breiter Stirn zwei seelenvolle Augen leuchteten. Sie, ganz in weiß Crêpe de Chine mit wundervollen Spitzen, an ihn geschmiegt, als wären sie beide allein auf der Welt.

      Die Dame am Tisch beugte sich zu Herrn Henderson und flüsterte:

      „Da reden sie immer von der neuen Sachlichkeit und von der verschwundenen Romantik in der Liebe! Schauen Sie sich die beiden an, Herr Oberregierungsrat ... wenn das nicht noch so ist wie zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern, dann will ich nie mehr Pommery trinken.“ Sie lächelte und deutete mit einem schalkhaften Zwinkern auf den Kühler, dem Herr Henderson schnell die silberhalsige Flasche entnahm, um seiner Partnerin die Sektschale zu füllen.

      Es sprang, freilich ein wenig zu spät, ein Lohndiener heran, der dem Oberregierungsrat die Flasche abnahm und sie wieder in den Kübel stellte. Henderson richtete sein Monokel auf den Mann, der, in schwarzem Frack, nur an der silbernen Raupe auf der Schulter als Bedienter kenntlich war.

      „Ah, aha!“ Herr Henderson wollte etwas sagen, verschluckte es aber. Nur ein leises Lächeln spielte um die grauen Borsten auf seiner Oberlippe. Das war doch? ... Ja ... ganz sicher! ... Das war er!

      Doktor Splittericht, der nach Übereinkunft mit dem Hausherrn heute hier die Rolle des Lohndieners spielte, sah den Oberregierungsrat mit großen Augen an. Sie verstanden sich. Dann eilte der Pseudo-Lohndiener nach dem Tanzparkett hinüber und reichte da Erfrischungen herum.

      Jemandem, der zu beobachten verstand, wäre es nicht verborgen geblieben, daß der Detektiv sich immer in der Nähe der blonden Tochter des Hauses aufhielt.

      Der große, blendend erhellte Raum schwirrte von Stimmen. Auf der Tafel flammten in silbernen Leuchtern und in Girandolen aus altem Meißener Porzellan noch die duftenden Wachslichter, und der Rauch von Zigarren und Zigaretten schwebte wie eine durchsichtige Wolke über den Rosensträußen, deren Blumen, ihren Duft doppelt verströmend, schon die Köpfe hängen ließen. Die Tanzmusik hörte auf zu spielen, und mit einem mächtigen Akkord einsetzend, intonierte die Tafelkapelle den Hochzeitsmarsch aus „Lohengrin“. Alle Gäste wußten, wem zu Ehren man heute hier feierte, und von allen Seiten liefen sie nun zusammen, reckten die Hälse, plauderten und lachten und warteten auf den Hausherrn, der vor den Lorbeerbüschen auf eine kleine Estrade trat und die Verlobung seiner Tochter mit dem Komponisten Karl von Wieland bekanntgab.

      Wieland, als Musiker bekannt und geschätzt, war vor kurzem zur musikalischen Leitung der Staatsoper berufen worden. Er hatte eine große Anzahl von Verehrern und Freunden, und wohl keiner war in der Gesellschaft, der ihm das Glück mißgönnte, als Schwiegersohn des millionenschweren Bankiers eines der schönsten Mädchen der Hauptstadt heimzuführen.

      Der Konsul sprach nicht viel, aber jedes seiner Worte kam aus seinem Herzen und ging ins Herz der Hörer. Dann trat Wieland mit seiner Braut hinzu, und der Vater räumte ihnen den erhöhten Platz zwischen dem Lorbeer.

      Alles drängte herbei, den Verlobten zu gratulieren. Auch Herr Henderson mit seiner Dame war unter den Glückwünschenden.

      Aber da geschah schon etwas Störendes:

      Ein anständig, aber gar nicht festlich gekleideter


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