Lone und der Vagabund. Poul Nørgaard

Lone und der Vagabund - Poul Nørgaard


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machte sich behutsam frei. „Das dürfte zwar übertrieben sein, aber wenn du deinen alten Vater gern hast, mein Kind, dann bin ich zufrieden. Ich habe mir jedenfalls alle Mühe gegeben, dir deine Mutter zu ersetzen, die du ja leider nie gekannt hast. Sie war ebenso liebevoll und fröhlich wie du. – Aber schließlich haben wir es dem Maler Langaa, dieser verrückten Nudel, zu verdanken, daß es uns jetzt so gut geht. Denn als ich ihn das erste Mal traf, war es nicht allzu rosig um uns bestellt. Prächtigere Menschen als ihn und Tjep kann man sich schwerlich vorstellen, da hast du völlig recht.”

      „Und was für spaßige Einfälle die immer haben”, lachte Lone. „Ich werde ihnen gleich schreiben. Oh, wie ich mich freue!”

      Es wurde ein langer Brief. Während sie ihn schrieb, versank Lone immer wieder in Gedanken. Sie rief sich die vielen Erlebnisse ins Gedächtnis zurück, die sie mit dem lebensfrohen Kunstmaler und seiner ebenso netten Frau gehabt hatte. Sie mußte an die spannende Schmugglerjagd in den Sommerferien denken, als sie in Vestervig bei Langaas zu Besuch war, und an den Schiffbruch in den Herbstferien. Dann waren sie und Kirsten mit den beiden in Tirol gewesen. Hu, wie unheimlich die alte Geisterburg in jener Nacht im Mondschein ausgesehen hatte!

      An Kirsten würde sie natürlich auch schreiben, sie hatte das ja alles miterlebt. Damals, vor einigen Jahren, hatte die Welt traurig für sie ausgesehen, aber dann war sie für die ganzen Sommerferien auf das große Gut Ravenstrup, das Kirstens Vater gehörte, eingeladen worden. Seitdem war Kirsten Winge nun ihre beste Freundin, und obwohl Kirsten auf Fünen wohnte und Lone in Nordseeland, hatten sie seit jener Zeit ihre Ferien fast immer gemeinsam verbracht.

      2

      „Was mag denn hier bloß los sein?” rief Lone aus, als sie und Kirsten vom Bahnhof der jütländischen Provinzstadt, wo sie sich mit dem Maler und Tjep verabredet hatten, auf die Straße hinaustraten. Es herrschte ein derartiges Gewimmel von Kindern und jungen Leuten, daß sie sich kaum hindurchdrängeln konnten.

      „He! Hallo! Lone, Kirsten!” ertönte in diesem Augenblick eine gewaltige Stimme, und da gewahrten die Mädchen auch schon die riesige Gestalt des Malers, der alle anderen mit seinem rotbärtigen Kopf weit überragte und sich mit rudernden Armen einen Weg zu ihnen bahnte.

      „Guten Tag, guten Tag!” riefen die Mädchen wie aus einem Munde. „Und vielen Dank, daß … “ Doch der Maler unterbrach sie. „Keine Zeit für Höflichkeiten”, sagte er und nahm ihnen die Koffer ab, „jetzt müssen wir vor allen Dingen sehen, daß wir von hier verschwinden. Kommt!” Damit schob er sich wie ein Eisbrecher durch den Menschenschwarm, und die beiden verwirrten Mädchen folgten ihm dicht auf den Fersen. „Die Polizei ist hier”, erläuterte er über die Schulter hinweg. „Ich darf hier nicht halten, weil wir einen Auflauf verursachen.”

      Das ist auch nicht weiter verwunderlich, dachte Lone, als sie das sonderbare Fahrzeug sah, um das sich die Leute drängten. Es war ein großer und sehr altmodischer Möbelwagen. Das eigentlich Bemerkenswerte daran war jedoch die ungewöhnliche und höchst eigentümliche Einrichtung und Bemalung. Aus dem Dach ragte ein langes Ofenrohr hervor; an beiden Seiten des Wagens waren zwei Fenster ausgesägt und mit Gardinen verhängt, und an der Rückseite befand sich eine Tür, zu der eine Klappleiter hinaufführte, die man während der Fahrt hochziehen konnte. Das auffallendste an dem ganzen Fahrzeug aber war seine Farbenpracht. Der vordere Teil war grün angestrichen, was, wie der Maler später erläuterte, gut für die Augen sei, und auf der Vorderseite und der Rückseite stand mit großen Buchstaben: Vagabund. Darüber hinaus war der ganze Wagen wie ein großes Landschaftsgemälde mit blauem Himmel, Wald, Strand und grünen Feldern dekoriert, und über allem strahlte eine mächtige zitronengelbe Sonne. Denn, so sagte Jakob Langaa: „Es ist gut, Sonnenschein von zu Hause mitzunehmen, falls man unterwegs in Regen geraten sollte.”

      „Das ist der Zirkusdirektor selbst”, flüsterte ein kleiner Junge seinem Kameraden ehrfürchtig zu, als der Maler sich dem Wagen näherte. „Traust du dich, ihn zu fragen?”

      „Macht ihr heute abend Zirkus?” ließ sich eine laute Jungenstimme vernehmen.

      „Nein”, brummte der Maler. „Wir graben nach Gold.”

      Die Augen des Jungen wurden so groß wie Teetassen.

      „Au, hast du das gehört, Egon? Das sind richtige Goldgräber.”

      Eine goldbetreßte Mütze tauchte im Gewimmel auf.

      „So, jetzt müssen Sie aber wirklich machen, daß Sie wegkommen”, trieb der Polizist den Maler ungeduldig an. „Sie halten ja den ganzen Verkehr auf.” Er stand an der Klappleiter, um die neugierige Menge etwas auf Abstand zu halten.

      Der Maler reichte ihm eine Zigarre. „Bitte sehr, und schönen Dank für Ihre Geduld.” Er schubste die beiden benommenen Mädchen die Leiter hinauf in Tjeps Arme; dann sprang er selbst auf den Führersitz und ließ den Motor an. Es hörte sich an, als ob eine Dreschmaschine eingeschaltet würde; das ganze Fahrzeug zitterte und bebte. Alles Hupen nützte nichts, die Leute machten keinen Platz. Erst als der Polizist vor den Wagen lief, lockerte sich die Menge so weit auf, daß der Maler anfahren konnte. Der vagabund setzte sich mit einem solchen Ruck in Bewegung, daß Lone sich schnell festhalten mußte, um nicht zu fallen.

      Die Reise ins Ungewisse hatte begonnen. „Bitte, setzt euch”, sagte Tjep mit einer einladenden Handbewegung in Richtung auf ein altes Sofa, das am Fußboden festgenagelt war, wie übrigens die meisten Möbel. „Es ist wirklich nett, daß man euch mal wiedersieht.” Sie selbst setzte sich auf den Tisch. Obwohl schon nahezu vierzig Jahre alt, war sie schlank wie ein Windhund. Das kurzgeschnittene, blonde Haar bildete einen dichten Kranz um ihren Kopf, und wie sie dort auf dem Tisch saß und mit den Beinen baumelte, in einem Khakihemd mit aufgekrämpelten Ärmeln, einer halblangen, engen blauen Leinenhose und blauen Leinenschuhen, glich sie einem aufgeschossenen Jungen. „Warum sagt ihr gar nichts? Findet ihr es hier nicht gemütlich?”

      Die Mädchen hatten dagesessen und sich umgesehen. Verschwenderisch konnte man die Einrichtung nicht nennen. Aber es war sicher praktisch, und die hellen, frohen Farben, in denen alles gehalten war, wirkten einladend und ermunternd.

      Das Wageninnere war wie eine Stube mit Tisch, Sofa und zwei Stühlen ausgestattet. An der einen Wand waren zwei Schlafstellen befestigt, die eine über der anderen. „Dort schlaft ihr”, sagte Tjep. „Breit sind die Betten zwar nicht, aber solange ihr eure schlanke Linie bewahrt, werdet ihr schon Platz haben. Wer unten und wer oben liegen soll, darüber müßt ihr euch selber einig werden.” An den Wänden hingen Bilder, einige in Glas und Rahmen, und die Gardinen vor den Fenstern ließen sich nachts vorziehen. In der einen Ecke stand ein kleiner, fester Tisch mit einem Petroleumkocher, darüber an der Wand hing alles Küchengerät, und in einem Kasten, der unter den Tisch geschoben war, klirrte das Geschirr. „Eisenporzellan”, klärte Tjep die Mädchen auf.

      „Ja, hier ist es wirklich gemütlich”, lächelte Kirsten. „Aber wo schläfst du und dein Mann?”

      Tjep zeigte auf das Sofa. „Dort rolle ich mich hin. Ich sage absichtlich ,rollen’ denn das Sofa ist nicht nur sehr kurz, sondern auch holprig, aber es geht eigentlich ganz gut. Man hat ja schon von indischen Fakiren gelesen, die auf Nägeln schlafen; da muß ich wohl zufrieden sein. Das Schlimmste ist, daß es nach vorn hängt, deshalb muß ich mich mit den Nägeln festkrallen, um nicht herunterzufallen. Aber man gewöhnt sich an vieles. Jakob schläft in Zelt und Schlafsack, das hat er immer schon so gern getan.”

      Kling, kling, drrrrrr! Es hörte sich an wie ein erkälteter Wecker.

      „Du meine Güte, habt ihr hier auch Telefon?” flüsterte Lone bewundernd, als sie sah, wie Tjep den Arm ausstreckte und den Hörer von der Gabel abhob. Man hörte ein paar kratzende Geräusche, dann reichte Tjep ihr den Hörer.

      „Das ist für dich”, sagte sie.

      „Für mich?” Lone war sprachlos. Wie konnte denn das angehen? „Ja, hallo!”

      „Hallo”, ertönte die Stimme des Malers. „Ja, wir hatten vorhin gar keine Zeit, uns richtig guten Tag zu sagen. Wie geht’s dir?”

      „Danke,


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